aS EFAISCFASEHAFEIRSEFISESTFEIDFEIIFEI IST ue hek 700 in Original- Haun. * ® Herausgegeben | unter getheiligung der erſten Schriftſteller Deutſchlands. XXIX. Jahrgang 17. Band. 10 Lebensräthlel. . Rorellen 8 von Karl Frenzel. Erſter Band. LTeizzig. Eruſt h Güntber. | „ x — 28 8 2 . — — 15 * A 0 25 . 75 ER — 8 3 7 * 8 9 “ * 3 n r nr Ad. Zi 1 IS . = 8 N 2 a SR | | 14 * > 1 10 8 a Rach Ein N 4 * 4 nt | „> er De CR Be art 23 Neue Romane aus dem Verlag von Ernſt Julius Günther in CTeipzig. (In jeder guten Leihbibliothek zu haben.) Graf Alrich Baudiſſin, Der Lebensretter. Humoriſtiſcher Roman. 3 Bde. Preis Thlr. 2. Graf Alrich Vaudiſſin, In engen Kreiſen. Roman. 4 Bd. Preis Thlr. 3. 15. Auguſt Becker, Das Thurmkätherlein. Roman aus dem Elſaß. 4 Bde. Preis Thlr. 4. M. E. Braddon; Die Lovels auf Arden. Autoriſirte Aus— gabe. 4 Bde. Preis Thlr. 3. 15. Edward Yulwer, Kenelm Chillingly. Autoriſirte Ausgabe 3 Bde. Preis Thlr. 5. Edward Bulwer, Das Geſchlecht der Zukunft. Aus dem Engliſchen. 1 Band. Preis Thlr. 1. Robert Byr, Nomaden. 5 Bde. Preis Thlr. 4. Robert Byr, Wrak. Zwei Erzählungen. 4 Bde. Preis Thlr. 3. 15 Inhalt: Trümmer. Zwei Tage aus einem Menſchenleben. 2 Bde. Der Tuwan von Pan awang. 2 Bde. Chriſtinen's Mißgriff. Von d. Verf. v. „John Halifax“. 2 Bde. Preis Thlr. 1. Wilkie Collins, Mann und Weib. Autoriſirte Ausgabe. 6 Bde. Preis Thlr. 4 20. Wilkie Collins, Fräulein oder Frau? Autoriſirte Ausgabe. 1 Bd. Preis 25 Ngr. Wilkie Collins, Armadale. 6 Bde. Autoriſirte Ausgabe. Preis Thlr. 4. Wilkie Collins, Ein tiefes Geheimniß. Autoriſirte Ausgabe. 3 Bde. Preis Thlr. 2. Wilkie Collins, Die Blinde. (Poor Miss Finch.) Autori⸗ ſirte Ausgabe. 4 Bände. Preis Thlr. 4. Wilkie Collins, Die Frau in Weiß. Autoriſirte Ausgabe. Dritte Aufl. 4 Bde. Preis Thlr. 1. C. Ereffienz, Die Kunſtreiterin. 3 Bde. Thlr. 2. 15. Mrs. Edwardes, Stephan Lawrence. Aus dem Engliſchen von Sophie Verena. 4 Bde. Preis Thlr. 4. Günther’s Bibliothek deulſcher Original-Nomane, Herausgegeben unter Detheiligung der erſten Schriftſteller Deutſchlands. j XXIX. Jahrgang. 17. Band n — — Teipzig, Ernſt Julius Günther. 1874. Sebensräthlel. a — Novellen Von Karl Frenzel. Erſter Band. FEE — Teipzig, Ernſt Julius Günther. 1874. + — . | . S D = —— — 8 2 = a 8 * = BERN 1 * * RR 5% Digitized by the Internet Archive in 2014 https://archive.org/details/lebensrthselnove12fren Erſtes Kapitel. „Welch' eine Langeweile iſt es doch, reich zu ſein! Welch' ein Elend iſt ein großes Vermögen! Ich wollte, ich wäre eines armen Mannes Sohn und ein Geiger geworden!“ Dies war ſeit einem halben Jahre die beſtändige Klage, mit der Herr Karl Strupp, Inhaber des be— deutenden, altbewährten und hochanſehnlichen Hand— lungshauſes Strupp und Comp. ſich zu ſeinem Tage— werk erhob. Bald ſprach er ſie laut aus, bald ſummte ſie ihm nur im Ohre nach. Denn im Grunde, was ſollte er mit dem Tage beginnen? Wider ſeinen Willen hatte ihn der ſtrenge, unerbittliche Vater in die kauf⸗ männiſche Laufbahn hineingezwungen. Mit dem alten Herrn Strupp war nie zu ſpaßen geweſen, und Karl hatte auch niemals daran gedacht, ſich anders als 4 „heimlich“ zu widerſetzen. Im Stillen grollte er über die Härte des Vaters, ſein verfehltes Leben und ſein zerriſſenes Herz. Im Uebrigen war er eine zu läſſige, nachgiebige, gutmüthige Natur, um ſich nicht zu fügen. Welche Kämpfe würde es nicht gekoſtet haben, gegen den Willen des Vaters den eigenen durchzuſetzen! Den Verſuch zu wagen, ein Muſiker zu werden, wo jener wollte, daß man das Geſchäft erlernen ſolle — ſtatt der Geige die italieniſche Buchführung! Wie viel Sor— gen, welcher Streit, welche Hinderniſſe — und zuletzt die gute Mutter! hatte ſich Karl geſagt, den Kopf in die Hand geſtützt und war jeden Morgen in das Comp: toir gegangen. Er hatte geſchrieben, gerechnet, die Börſe beſucht, war als Freiwilliger zwei Jahre in einem engliſchen, ein Jahr in einem franzöſiſchen, ein viertes in einem New-Porker Wechſelhauſe geweſen, ein gehorſamer Sohn, und war bei alledem der ſchlechteſte Kaufmann und ein müßiger Träumer geblieben. Das hatte ihm vor ſechs Monaten, bei dem Tode ſeines Vaters, der „Compagnon“ des Hauſes, Herr Moriz Meyer, geſagt und Karl ihm die Hand geſchüttelt: „Einverſtanden, Herr Meyer! Meine“ — er kam eben aus New-Pork und hatte noch die amerikaniſche Sprech⸗ weiſe — „daß Sie das Geſchäft ohne mich um ſo beſſer führen werden.“ 5 So geſchah es. Des Anſtandes halber und weil dabei doch eine Stunde verlief, erſchien Karl Strupp an jedem Vormittage mit dem Glockenſchlag elf Uhr in den Geſchäftszimmern des Hauſes, unterſchrieb, was ihm Herr Moriz Meyer vorlegte und redete mit ihm und mit den älteren Beamten. Da er ein leutſeliger, freundlicher, junger Mann war, von mäßiger Bega⸗ bung, aber weltgewandt durch die großen Reiſen, die er gemacht, die Kenntniß vieler Menſchen und Ver— hältniſſe, die er ſich erworben, zweifelte Niemand in dieſem Kreiſe auch an ſeiner kaufmänniſchen Klugheit und Tüchtigkeit. Er ließ die Dinge gehen, wie das Schickſal und Herr Moriz Meyer es wollten. Mit ſechsundzwanzig Jahren war er äußerlich ſo reich und frei, als er es nur wünſchen konnte. In ſeinem In⸗ nern fühlte er ſich gerade ſo gedrückt und unbe— haglich, wie er es als Knabe, als Jüngling geweſen. Wenn er in einer Abendſtunde auf ſeiner Geige melan— choliſche Weiſen geſpielt, ſeufzte er: „Ich wäre der König der Geiger geworden!“ und war glücklich. Nur einen Augenblick — es war ihm, als hörte er hinter ſich ſeinen amerikaniſchen Prinzipal, den alten Morſe, ſagen: „Kalkulire, daß Sie ein Narr ſind, Mr. Strupp!“ — Ja, wäre er nur ein ganzer Narr geweſen! Allein auch dazu fehlte dem guten Karl die Willenskraft und 6 / die Leidenſchaft. Von dem Vater wollten die Leute wiſſen, daß er in jüngeren Jahren die ganze Gewalt und das Verderbliche großer Leidenſchaften an ſich ſelbſt erfahren; was bei ihm geſtanden, hatte er darum gethan, ſie in ſeinem Sohne zu unterdrücken. Der Zufall war ihm zur Hilfe gekommen; Karl blieb das einzige Kind der Ehe. Er wurde ein verwöhntes Mutterſöhnchen, dabei in ewiger Angſt vor dem ſtren⸗ gen, eiſernen Vater. Wie der Knabe Launen, hatte der Jüngling Neigungen, allein keiner gab er ſich maß: los und unbändig hin. Ueber ſeinem Dichten und Trachten lag es nun einmal wie ein Schleier der Dämmerung. Von übertriebenen Wünſchen hielt ihn ſein Verſtand, von Regelloſigkeit die Kühle ſeiner Sinne zurück; es war nicht ſeine Tugend oder ſein Verdienſt, es war ſeine Art. Was ihn am meiſten quälte und bekümmerte, war die Unthätigkeit und Nutz⸗ loſigkeit ſeines Lebens. Er fand keine Arbeit, die ihn ausgefüllt hätte. Zuweilen fiel es ihm ein, ſich bei der Verwaltung der Gemeinde, am politiſchen Leben zu betheiligen; aber in der großen Hauptſtadt boten ſich ihm nicht fo leicht, wie er es wünſchte, die Gelegen⸗ heiten dazu. Alles bedurfte der Vorbereitung und in— mitten dieſer Vorbereitungen ſchwanden ihm ee und Ziel wieder aus den Augen. b 7 Eben war er heute, nach Abhaltung ſeiner Ge— ſchäftsſtunde, in ſeinem kleinen eleganten Wagen, den er ſelbſt fuhr, nach ſeiner Privatwohnung zurückgekehrt und lag träumeriſch auf dem Sopha, als ihm ſehr un⸗ erwartet und unwillkommen der Beſuch einer Dame gemeldet wurde. „Gräfin Leontine Lindenburg,“ las er auf der Karte, die ihm ſein Diener überreichte. „Lindenburg .. . hm! Führe fie in den Empfangs⸗ ſalon. Ich käme gleich ... wäre noch überhäuft ... mit Geſchäften.“ Ä Er wollte aber nur Zeit gewinnen, feines Ver: druſſes und ſeiner Befangenheit Herr zu werden. „Her⸗ mann's Mutter!“ ſprach er vor ſich hin. „Was will die bei mir? Sie ſoll eine böſe adelsſtolze Frau ſein . Und kommt zu mir? Sie wird doch nicht wegen ihres Sohnes Schulden Erkundigungen bei mir einziehen wollen? Das wäre! Die jämmerliche Summe!“ Damit war er hinüber gegangen. Eine Dame im Anfang der fünfziger Jahre, eine ſtattliche, würdevolle Erſcheinung mit grauen Locken, ſtarren, nicht unſchönen Zügen, mit kalten Augen, im ſchweren ſchwarzen Sammtkleid ſtand Leontine vor ihm. Nach den erſten Begrüßungen begann ſie mit klarer Stimme, in ſelbſtbewußter Ueberlegenheit —- 8 Karl merkte ſogleich, daß er ihr gegenüber die zweite Geige ſpielen würde — | „Ich komme, Herr Strupp, in einer wichtigen, in einer eigenthümlichen Angelegenheit zu Ihnen. Es gibt Umſtände, in denen man zu einem Bankier, wie zu einem Advokaten oder zu einem Arzt unbedingtes Vertrauen haben muß.“ „Ja wohl, gnädige Frau,“ antwortete Karl zer: ſtreut umherblickend, er fürchtete ſich vor ihren Augen. „Ihr Herr Vater ſtand mit meinem Bruder in beſtändigem Geſchäftsverkehr — in einem Verkehr, den man beinahe Freundſchaft, innigſte Freundſchaft nennen konnte. Ich wenigſtens bin überzeugt, daß mein Bru- der auch nicht das geringſte Geheimniß vor Ihrem Vater hatte.“ „Sehr möglich,“ erwiderte Karl. Er hatte nicht einmal eine Ahnung von dem angedeuteten Verhält⸗ niſſe. „Aber mein Vater iſt vor einem halben Jahre geſtorben.“ „Mein Bruder iſt ihm vorangegangen.“ Der junge Mann hielt es für angemeſſen, durch eine Bewegung ſein verſpätetes Beileid auszudrücken. „Sie kannten den Freiherrn von Ruhdorf?“ „Nicht perſönlich.“ Wohl klang ihm der Name bekannt, aber er vermochte denſelben nicht mit einer 9 beſtimmten Perſönlichkeit in Verbindung zu bringen; nur dies war ihm gewiß, daß er ihn niemals aus dem Munde ſeines Vaters vernommen, und er wollte ſchon der Gräfin bemerklich machen, daß ſie ſich, was auch immer ihr Anliegen ſei, bei ihm nicht an den Rechten gewandt habe, aber ſie ließ ihm in ihrem Eifer gar nicht das Wort. „Mein Bruder,“ ſagte ſie haſtig, „ſtarb plötzlich. Am Abend war ich noch mit ihm zuſammen geweſen; in der Nacht verſchied er am Schlagfluß. Urplötzlich, nicht er noch einer aus der Familie hatte ein ſolches jähes Ende befürchtet. Ein Teſtament war nicht vor— handen.“ Eine Pauſe entſtand. „Ihr Herr Bruder war nicht verheirathet?“ fragte abſichtslos Karl. „Nie. Ich war ſeine nächſte, beinahe ſeine einzige Anverwandte. Wie es bei einem ſolchen Schreckens— falle nicht anders ſein konnte, waren die Papiere meines Bruders in Unordnung. Ich ſuchte umſonſt nach Aufklärungen, die mir nothwenig waren. Die Briefe Ihres Herrn Vaters, die mir erſt längere Zeit nach dem Tode meines Bruders in die Hände fielen, erweckten in mir die Hoffnung, daß er mich vielleicht...“ „Aber er iſt todt,“ unterbrach ſie Karl. „Handelt es ſich, wie ich beinahe vermuthen muß, um ein Geld- 10 geſchäft, jo wird ſich unſer Haus beeilen, Ihnen, Frau Gräfin, über unſern Verkehr mit dem Freiherrn von Ruhdorf jede wünſchenswerthe Auskunft zu geben.“ Er hatte kurz und ſcharf geſprochen, in dem Auf— treten und Weſen der Gräfin war etwas, das ihn verletzte. So leicht indeſſen ließ ſich dieſe nicht erſchüttern. „Freilich, Herr Strupp, das Geld ſpielt mit. Ich ver— muthe — doch iſt es ebenſo möglich, daß ich mich irre — mein Bruder habe kurz vor ſeinem Tode eine nicht unbedeutende Geldſumme bei Ihrem Herrn Vater nie⸗ dergelegt.“ „Bei meinem Vater!“ „Für — für eine Dame; und meine Bitte an Sie geht einfach dahin, ob Sie, ob Ihr Haus dieſe Dame, ihren Wohnort kennt, ob Sie jene Summe ſchon ...“ „Frau Gräfin,“ brachte Karl mühſam heraus — der Zorn über die Zumuthung dieſer vornehmen Dame, die beinahe ohne jede Einleitung einen Vertrauens⸗ bruch von ihm forderte, drohte überzuwallen — „ich kenne jene Dame nicht einmal dem Namen nach. Mein Vater hat von all' dieſen Dingen nicht zu mir geſpro— chen. Nach Ihren eigenen Worten, Frau Gräfin, muß ich annehmen, daß es ſich, wenn die Geſchichte nicht 11 auf einem Irrthum Ihrerſeits beruht, um einen Akt der Freundſchaft handelte, nicht um ein Geſchäft. Von Thaten der Freundſchaft aber iſt man nicht verpflichtet, Rechenſchaft zu geben.“ „Ich muß Ihnen in einem ſehr ſeltſamen Lichte erſcheinen,“ ſagte Leontine darauf und prüfte ihn mit ihrem ſchärfſten Blick, „daß Sie mir eine ſolche Ant⸗ wort geben. Wäre ich mir einer unlauteren Abſicht bewußt, würde ich ſo frei mit Ihnen reden, mein Herr? Begreifen Sie doch, daß nur die zwingendſten Gründe mich zu dieſem Schritte treiben konnten. Ich muß jene Dame wieder auffinden.“ „Muß?“ entſchlüpfte es Karls Lippen. Das Abenteuer fing an, ſeine Neugierde zu ſpannen. „Ja, muß! Denn mein Sohn iſt wie ein Toll: kopf, wie ein Verzauberter in ſie verliebt —“ „Ah!“ „Und ich will dieſe Liebe nicht dulden!“ Nun hatten ihre grauen Augen den unheimlichſten Blick. „Nicht dulden!“ wiederholte ſie und ſchlug mit der flachen rechten Hand in die linke. „Aber wenn jene Dame die Neigung Ihres Herrn Sohnes theilt?“ Karl ſtand ſchon im Geiſte auf Sei— ten des unglücklichen Liebespaares und dachte ſich in die edle uneigennützige Rolle eines Beſchützers hinein. 12 „Ich hoffe, daß ſie zu verſtändig iſt, die Liebe eines jungen Thoren zu erwidern. In jedem Falle muß ich ihren Aufenthalt erkunden, muß ſie ſprechen. Das war es, was mich zu Ihnen führte, mein ge⸗ ängſtigtes ſorgenvolles Mutterherz. Ich wollte Ihre Hilfe, Ihre Vermittelung bei jener Dame in An⸗ ſpruch nehmen. Da Sie indeß behaupten, ſie nicht zu kennen ...“ „Wie ich Ihnen vorhin ſagte, Frau Gräfin, iſt mir der Anfang wie das Ende dieſer Geſchichte gleich unbekannt. Ich weiß nichts von der Freundſchaft mei- nes Vaters mit dem Freiherrn von Ruhdorf, weiß nichts von einer in ſeinem Namen bei uns niedergelegten Summe. Darüber wird indeſſen mein Compagnon Auskunft geben können.“ Die Gräfin war aufgeſtanden und muſterte ihn noch einmal. Sollte ſie noch einen Verſuch machen, ihm das Geheimniß zu entlocken? Sie war überzeugt, daß er ſie nur mit leerer Ausflucht hinhalte; aber wenn er ſo ſchlau und verſchlagen war, vielleicht hatte ſie ſich dann ſelbſt ſchon zu tief in das Spiel ſehen laſſen. Eine gegenſeitige ſteife Verneigung. „Gottlob, da fährt der Wagen fort!“ rief Karl, der an das Fenſter getreten war, gleichſam um ſich die Gewißheit zu verſchaffen, daß der läſtige Beſuch 13 das Haus in der That verlaffen. „Ich beneide Her: mann um dieſe Mutter nicht! Was kümmert mich die leidige Familiengeſchichte!“ Dennoch hatte ſie einen ſo ſtarken Eindruck auf ihn ausgeübt, daß er in den Nachmittagsſtunden zum allgemeinen, lang anhaltenden Erſtaunen aller Beam⸗ ten und Diener des Hauſes im Comptoir erſchien, zum zweiten Mal an Einem Tage. Herr Moriz Meyer hätte beinahe die Feder aus der Hand fallen laſſen und den eben angefangenen Brief verdorben. In Worten, denen der ruhige Geſchäftsmann leicht die Erregung des jungen Mannes anmerkte, verſtändigte ihn Karl von der Urſache ſeines Kommens. Ueber die „Freundſchaft“ zwiſchen dem Freiherrn von Ruhdorf und dem alten Herrn Strupp ſchüttelte Moriz Meyer den Kopf und meinte: „Geſchäftsverbindungen — nichts weiter!“ Deſto beſſeren Beſcheid wußte er hin⸗ ſichtlich jener Summe zu geben. Vor nunmehr zwei Jahren hatte Ruhdorf perſönlich im Bureau des Hau⸗ ſes ein wohlverſiegeltes Packet niedergelegt, das an— geblich zwanzigtauſend Thaler in 4½ prozentigen Staats⸗ papieren enthielt. Es befand ſich noch im Verſchluß der Kaſſe; der erſte Buchhalter zeigte es Karl. Das Siegel, fünffach wiederholt, zeigte das Wappen der Rubdorfs: im viereckigen durch einen Querbalken ge: 14 theilten Schild links eine Raute, rechts einen Löwen, das Ganze von einem Helm gekrönt. Die Aufſchrift war, wie Herr Moriz Meyer ſagte, von des Freiherrn eige— ner Hand und lautete: Eigenthum von Gabriele Oſten, dem Bankhauſe Strupp und Comp. anvertraut am 15. October 1867. Von Heinrich von Ruhdorf. Angehef— tet war ein Papier, auf das der alte Herr Strupp geſchrieben: Nach Wunſch und Willen des Herrn von Ruhdorf nur der obengenannten Gabriele Oſten per: ſönlich auszuliefern, die ſich — falls der erſt Unter: zeichnete, der ſie ſehr genau kennt, nicht mehr am Leben ſein ſollte — in gerichtlich unanfechtbarer Weiſe zu legitimiren hat. Aufzubewahren zunächſt vier Jahre; dann — auf Koſten der Beſitzerin — einen Aufruf an ſie in den öffentlichen Blättern zu erlaſſen; den⸗ ſelben mehrfach zu wiederholen; mit Abſchluß des fünf— ten Jahres das Packet uneröffnet dem Gericht zuzu⸗ ſtellen. Unterzeichnet waren: Strupp, Moriz Meyer, der Prokuriſt und der Kaſſirer; endlich der Freiherr und der Rechtsbeiſtand des Hauſes. | „In ſchönſter Ordnung,“ ſagte Herr Moriz Meyer und ließ das Packet wieder an ſeinen Ort bringen. „Schreiben Sie Ihrer Gräfin, lieber Strupp, daß die Summe noch nicht angerührt worden. Lindenburg, ſagten Sie? Hat wohl einen Sohn oder Mann. 15 liefen ſchlimme Gerüchte über ihn an der Börſe herum! Als ob es ſich um ſeine Schulden und Wechſel gehandelt, ſo roth und verlegen wurde Karl. Kaum daß er noch Herrn Moriz Meyer den Dank für ſeine Bemühung ausgeſprochen — dann eilte er aus dem Comptoir. Auf und ab, ohne Zweck und Abſicht, ging er die breite Straße, welche mit vierfachen Reihen von Lindenbäumen beſetzt, von einem ſtattlichen Thore zu dem Königsſchloſſe führend, eine Art Weltruf ge- nießt, ganz verſunken in die abenteuerliche Geſchichte, die um ihn zu ſpielen begann. Um ihn, den Unſchul⸗ digen, den Unbetheiligten, der das Dunkle und Ge— heimnißvolle immer gemieden hatte und dem bis auf den heutigen Tag, gleichſam als hätte die wohlwollende Natur ihn vor einer ſolchen für ihn unerträglichen Laſt bewahren wollen, nichts Außerordentliches ge— ſchehen war. „Ein wahrer Unglückstag“, ſeufzte er ſtill in ſich hinein, nach einigen vergeblichen Verſuchen, ſich dieſe Gabriele, die Gräfin, die Schenkung des alten Ruhdorf und die bedenklichen Wechſelſchulden Her— mann's mit einem kühnen Zuge aus dem Gedächtniß zu Schlagen. Umſonſt — fie blieben. Gabriele, Rub- dorf — was war nur das? Dieſe leeren Namen ge: wannen Form und Geſtalt, verſchwimmende, unklare — aber doch ... Eine Erinnerung dämmerte in ihm 16 auf. Im September 1867, in den Räumen der Bas riſer Weltausſtellung hatte er einen halben Tag lang mit einem älteren Herrn und einer jüngeren Dame — er hatte nicht herausfinden können, ob ſie ſeine Gattin, ſeine Tochter oder was ſonſt geweſen — in angeneh— mer Weiſe zugebracht. Er hatte die Beiden umher⸗ geführt; da ſie deutſch mit einander geſprochen, hatte er ſie gleich als Landsleute erkannt, ſie hatten zuſam⸗ men geſpeiſt und ſich darauf Lebewohl geſagt. Ob ſie ihre Karten gewechſelt? Wohl möglich; aber er hatte es vergeſſen. Am nächſten Tage hatte er ein ſchwieriges Geſchäft abzuwickeln gehabt, eine Woche ſpäter war er nach London, einen Monat darauf nach New⸗York abgereiſt. Da kümmere ſich einer um eine flüchtige Bekanntſchaft! Denn auffällig war an dem Herrn wie an der Dame nichts geweſen. Nichts? Sie war eine blendende Erſcheinung geweſen, eine regel⸗ mäßige Schönheit .. aber kalt, ſagte ſich Karl, eis: kalt und langweilig. Und der leichtſinnige, wilde, phantaſtiſche Hermann ſollte ſich in ein ſolches Mäd⸗ chen verliebt haben? Eigen war es doch, oder wieder— holte ſich hier das Sprüchwort: ſtille Waſſer ſind tief? Das Einfachſte war, er ging zu Hermann und ließ ſich rei- nen Wein einſchenken. Von dem Beſuch der Gräfin brauchte er nichts zu ſagen und kein Vertrauen zu verletzen. 17 Darüber war der Abend herabgeſunken, ein feuch— ter Octoberabend mit niedergehenden grauen Nebeln. Die Laternen wurden angezündet, im hellſten Glanz ſtrahlten die weiten Schaufenſter prächtiger Läden. Stärker als zu anderen Tageszeiten wälzten ſich zu dieſer Stunde die Menſchenwellen die Straße hinauf und hinab. Langſam wandelte Karl ſeinem Ziele zu; im adeligen Kaſino durfte er hoffen, ſo kurz vor dem Beginn der Theatervorſtellungen den jungen Dragoner— offizier am ſicherſten zu finden. An einem Juwelier: laden mußte er vorüber; wie immer drängte ſich auch heute eine Anzahl Schauluſtiger vor den Fenſtern, um die ausgeſtellten Koſtbarkeiten halb mit neugierigen, halb mit neidiſchen oder begehrlichen Blicken zu mu— ſtern. Auch Karl blieb eine Weile ſtehen, weniger um die Schmuckſachen zu betrachten, als um mit ſich ſelbſt über den Schritt ins Reine zu kommen, den er bei Hermann unternehmen wollte. Unter den Armſpangen und Perlenketten, den Ohrgehängen, Ringen und Na— deln waren auch ältere Kunſtwerke der Goldſchmiede— kunſt, einige ſilberne Schüſſeln mit Relieffiguren, ein ſilberner Becher mit eigenthümlich fein und ſauber her— ausgearbeiteten Geſtalten — die Hochzeit zu Kana dar— ſtellend — wie es Karl ſchien, ein kleines Meiſterſtück der italieniſchen Renaiſſance aus dem Ausgang des Frenzel, Lebensräthſel I. 2 18 fünfzehnten Jahrhunderts — zur Schau gebracht. Der junge Kaufherr hatte eine Vorliebe für ſolche Arbeiten, er beſaß eine kleine, aber erleſene Sammlung derſelben und galt im Kreiſe ſeiner Bekannten für einen großen Kunſtkenner. Nichts war natürlicher, als daß der Becher ihm ins Auge ſtach und die Begierde des Sammlers erweckte. Aufmerkſam betrachtete er ihn und überlegte in Gedanken den Kaufſchilling, den ihm der Juwelier dafür abfordern würde, theilnahmlos gegen ſeine Umgebung. Plötzlich ſtreifte etwas ſeine Schulter, es war ein Frauenſchleier, den der Wind bewegte. Dicht neben ihm ſtand eine Frauengeſtalt in dunkler Kleidung, das Geſicht beinahe an die Spiegel: ſcheiben gedrückt, die Augen gerade wie er auf den Becher gerichtet. Indeß, das mochte eine Täuſchung ſeiner Phantaſie ſein. Aber indem er ſich zur Seite wandte, um die Thüre des Ladens zu erreichen — er war nun ſchon entſchloſſen den Becher um jeden Preis zu erſtehen — kehrte ſie das Antlitz ihm zu. Das blendende Licht der Lampen, die außerhalb des Schau⸗ fenſters angebracht waren, um die darin befindlichen Gegenſtände deſto heller zu beleuchten, traf ihre blei— chen, krankhaften, aber in ihren Linien ſchönen Züge. Beide ſtarrten ſich an; Karl ſie mit offenem Munde, wie eine Wundererſcheinung; fie ihn mit einem unbe: 19 ſchreiblichen Ausdruck, in dem zugleich Frage, Freude und Erſchrecken lag. Eben wollte er eine Anrede ſtam— meln, ein „Verzeihen Sie, mein Fräulein!“ oder der— gleichen, da war ſie von ihm fortgedrängt worden; einer der im Laden beſchäftigten Diener, der den reichen Bankier Karl Strupp erkannt, hatte ihm die Thüre geöffnet. In Karl's Seele kämpften zwei Triebe; der eine hielt ihn feſt, um die Gelegenheit zum Kauf des Bechers zu benutzen, den vielleicht ſchon morgen ein Anderer im Beſitz nahm; dagegen rief eine Stimme in ihm: Laſſe dies ſchwarzgekleidete Mädchen dir nicht wieder entſchwinden, eile ihr nach, ſprich ſie an. Er wäre nicht Karl Strupp geweſen, wenn nicht zuletzt die Trägheit und das Gefühl des Gewiſſen gegenüber dem Ungewiſſen und Abenteuerlichen, das ihn mit ſich fortzureißen drohte, geſiegt hätten. Er blieb im Laden, länger, als er urſprünglich gewollt, ungeduldig und zerſtreut und ſich immer von Neuem aufhaltend. So viel Kaufmann war er bei alledem, um den Juwelier ſeine Begierde nach dem Becher nicht ſchon auf der Schwelle merken zu laſſen. Erſt nach dem Ankauf einiger Kleinigkeiten kam er auf denſelben zu ſprechen; nach ſeiner Anſicht erhielt er das ſeltene, koſtbare Kunſtwerk für einen mäßigen Preis. „Sind Sie ſchon längere Zeit im Beſitz dieſer Ar— 25 7 20 beit?“ fragte er ſcheinbar gleichgiltig während der Ber: handlung. „Doch, ſeit zwei oder drei Monaten, Einiges mußte daran ausgebeſſert werden.“ Der Juwelier wies auf die Arabeskenverzierung um das Hautrelief hin... „Ihr feiner Blick, Herr Strupp, wird hier gleich die nachhelfende Hand des modernen Künſtlers erkannt haben.“ „Ja, ja!“ nickte Karl mit Kennermiene und that, als vertiefe er ſich ganz in Betrachtung des zierlichen vergoldeten Laubwerks. „Woher haben Sie den Becher? Aus Italien mitgebracht?“ „Nein,“ antwortete der Händler und ſtockte eine kleine Weile; ohne Zweifel ſuchte er nach einer Aus⸗ flucht und wollte ſeine Kundſchaft nicht verrathen. „Ich habe den Becher unter anderen Antiquitäten in einem Juwelierladen in der Provinz gefunden; in einem Schloſſe der Umgegend war eine Auktion ge⸗ weſen.“ „So, ſo,“ meinte Karl und ſchloß den Han⸗ del ab. g . Den Becher beſaß er nun wohl, als er den Laden verließ, aber das Mädchen war verſchwunden. Das Mädchen? Er war einmal der Ueberzeugung, daß jene Fremde weder verheirathet noch verwittwet ſei. Nach 21 allen Seiten ſchaute er ſich um, als müſſe fie ihn an derſelben Stelle erwarten, wo ſie vorhin geſtanden. Aber nur gleichgiltige Geſichter blickten ihn an, keine Spur mehr von ihr. In dem unaufhörlich fluthenden Menſchenſtrom war ſie, ein Atom, ebenſo plötzlich ver— loren, wie aufgetaucht. Doch nicht auf immer, gelobte er ſich und empfand einen leiſen Schauer, wenn er dem empfangenen Eindruck nachſann. Im erſten Augenblick, wo ſie einander angeſchaut, war es ihm geweſen, als hätte er dies Antlitz ſchon geſehen, da— mals, im Palaſt der Pariſer Weltausſtellung ... o Thorheit über Thorheit! ſollte es Gabriele ſein? Jene Gabriele Oſten, für die das Haus Strupp und Comp. zwanzigtauſend Thaler .. . Mein Freund, unterbrach hier Karl den eigenen Gedankengang, du haſt das Fieber. Du verirrſt dich in Spekulationen, die eines anſtändigen und geſetzten Kaufmanns unwürdig ſind. Gehe unter Menſchen, gucke in das gelangweilte und langweilende Angeſicht der Welt und du wirſt deinen Verſtand wieder finden. Eine Folge dieſer Betrachtung war, daß er, ohne ſich aufzuhalten, das adelige Kaſino aufſuchte. Hier wenigſtens werde ich vor Phantaſiegebilden ſicher ſein, dachte er, in den Leſeſaal tretend. Heute wie morgen und morgen wie heute, das ewige Einerlei, gleichför— 22 mig, gleichmäßig und höchſt vernünftig, das iſt das Grundübel und die Grundwahrheit dieſer Welt. Kaum hatte er ſich, nach einem flüchtigen Gruß gegen den einſamen Leſer, der mit ihm den Raum theilte, in einen Lehnſtuhl am Fenſter geworfen und in mechaniſcher Gewohnheit den Kurszettel der Abend— zeitung überflogen, ſo ſtürmte es mit haſtigen, kräftigen, ſporenklirrenden Schritten in das Zimmer. Es war Graf Hermann Lindenburg, ein ſchlanker Dragoner: offizier, dem die blaue kleidſame Uniform mit gelben Aufſchlägen vortrefflich ſtand. Hochgewachſen, mit blondem Vollbart, mit blitzenden blauen Augen, mit kräftigen, edel geſchnittenen Zügen, denen nur ein zu ſtarker ſinnlicher Ausdruck aufgeprägt war, erſchien er in Allem als der Gegenſatz zu dem ſchmächtigen, fein⸗ gegliederten, braunäugigen Freunde, der in ſeinem ganzen Weſen etwas durchaus Friedliches und im Ge— ſicht das Träumeriſche eines echten Muſikers hatte. Beide ſchüttelten ſich die Hand; ſeit Karl Strupp wie⸗ der in ſeiner Vaterſtadt lebte, kannten ſie ſich. Aus einer Begegnung im Theater war eine Art Freund— ſchaft erwachſen, die für den Lieutenant auf einer realen Grundlage, der Börſe des Freundes, beruhte, für Karl dagegen einen idealen Schimmer bewahrte. Hermann Lindenburg erſchien ihm als das Vorbild 23 eines deutſchen ritterlichen Gentleman; der Graf hatte ſich rühmlich in der Schlacht bei Königgrätz geſchlagen, über ſeine rechte Wange hin lief eine ſchöne Narbe. Karl beneidete alle Menſchen, denen das Schickſal es vergönnt, an großen Dingen handelnd theilzunehmen. In ſeinem Freunde ſah er gleichſam ein lebendiges Stück Geſchichte. „Ich komme eben von Ihnen her, lieber Strupp,“ ſagte Hermann. Karl lachte, weil er den Grund die— ſer Eile und Aufmerkſamkeit zu ahnen glaubte. Wieder in Noth? ſchien ſein Lächeln zu fragen und zugleich anzudeuten, daß er ſeinerſeits auch wieder der Helfer in der Noth ſein werde. „Nun ja,“ redete der Andere weiter, „ich verſtehe Sie. Das Geld wird immer ſel— tener bei mir, allein davon, wenn es Ihnen recht iſt, ein andermal.“ „Nach Belieben — im Uebrigen ...“ „Ich kann auf Sie rechnen,“ drückte ihm der Offi⸗ zier die Hand. „Sie ſind mehr als ein Bruder gegen mich. Wollen Sie auch wie ein Bruder wahr zu mir ſein?“ „Seltſame Frage!“ „Meine Mutter war heute in Ihrem Hauſe — keine Ausflüchte, ich weiß es, weiß auch warum?“ „Nun, was wollen Sie denn von mir?“ 24 „Sie haben mich jo oft Ihrer Freundſchaft ver- ſichert — was ſagten Sie meiner Mutter? Kennen Sie Gabrielens Aufenthalt?“ In Kürze konnte Karl ihm nur dieſelbe Antwort ertheilen, die er am Morgen der Gräfin gegeben, und hinzufügen, daß jenes vielbeſprochene Depoſitum noch unberührt und unantaſtbar in dem Kaſſaſchrank von Strupp und Comp. läge. Ueber dieſe Eröffnung ſchien Hermann auf das Höchſte verwundert; ſtellte er ſich nur ſo unwiſſend, oder war er es in der That? „Gabriele hat ein Vermögen,“ rief er... „Die kleine Summe,“ unterbrach ihn Karl. „Klein für Sie, aber für ein armes, in die Welt hinausgeſtoßenes Mädchen ...“ „Arm? Aber ſie hat das Geld ja nicht erhoben.“ Hermann ſtützte den Kopf in beide Hände. „Und daß meine Mutter gerade jetzt Sie aufſuchte, ſie muß doch eine Spur von ihr entdeckt haben, ſie hier in der Stadt vermuthen!“ In der Stadt! Wieder wie vorhin an der Thüre jenes Juwelierladens durchſchauerte es Karl, aber er hielt an ſich und verrieth ſein Geheimniß nicht. „Ihre Frau Mutter haßt das Fräulein?“ „Sehr; ja bis zum Tode!“ 25 „Aber doch nur aus Liebe zu Ihnen.“ „Hat ſie Ihnen das geſagt?“ „Ich hab' es errathen; ſie will Ihre Verbindung mit jener Dame nicht dulden; in ihrem Zorn iſt ihr jedes Mittel gerecht und willkommen, ein ſo unheil— volles Ereigniß zu hindern.“ „Unheilvoll!“ rief Hermann, vergeſſend wo er war, aus und fuhr ſich durch das Haar. „Sie ſprechen das richtige Wort aus. Es iſt eine Tollheit, ſie hat es mir angethan! Liebestränke ſind ein Unſinn, nicht wahr? Mittelalterlicher Köhlerglaube ...“ Karl ſah den Freund bedenklich von der Seite an — Liebestränke! In der Poeſie ließ Karl ſie gel⸗ ten, in Märchen und Opern mochten ſie nach Gefallen wirken, aber in der Wirklichkeit des neunzehnten Jahr: hunderts! Und bei einem jungen Reiteroffizier, der trotz ſeiner „tollen Liebe“ zu einer unbekannten Ga— briele noch Verhältniſſe mit leider nur zu bekannten Tänzerinnen unterhielt. Der Wein ſpricht aus ihm, ſagte Karl zu ſich ſelbſt, wie zur Entſchuldigung des Andern. „Sie lachen mich aus“, ſprudelte Hermann, „Sie find drüben jenjeit des Waſſers ein Yankee geworden, nehmen Sie es mir nicht übel, lieber Strupp, ein Yankee mit Fiſchblut! Aus demſelben Becher tranken 26 Triſtan und Iſolde . .. Hätten Sie den Becher ge= 14 u.” „Welchen Becher?“ fuhr nun ſeinerſeits Karl auf. War es ein Dämon oder war er es ſelbſt, der den vor einer halben Stunde gekauften Silberbecher mit den wilden Reden des Freundes in einen abenteuer— lichen Zuſammenhang brachte? „Ein Wunderbecher .. . Nein, im Ernſt, lieber Strupp! Das wäre etwas für Sie geweſen. Ein echtes Stück italieniſcher Renaiſſance. Irgendwo in Italien hatte ihn mein Oheim erſtanden.“ „Ihr Oheim? In Italien!“ Wie hilfeſuchend, rathlos blickte Karl umher und rückte ungeduldig auf ſeinem Stuhl. „Ja doch! Mein Oheim liebte ſolche Antiquitäten, wie Sie! Und dieſer Becher: Lucretia Borgia hat aus ihm getrunken ... Denken Sie nur, Lucretia! Er trägt am Fuß das Wappen der Borgias und die Jahreszahl 1501.“ „Lucretia's Becher!“ Dem guten Karl ſträubten ſich alle Haare auf ſeinem Haupt. „Aus dieſem Becher hat mir Gabriele zugetrunken. Verſtehen, ahnen Sie nun, Mann mit dem ledernen Yanfee-Herzen? Genug, genug! Ich habe Ihr Wort — Sie wiſſen nichts von Gabrielen?“ 27 „Nein, nein!“ brachte Karl mühſam hervor, das Athmen wurde ihm ſchwer, als läge eine ungeheure Laſt auf ihm. Es drängte ihn hinaus ins Freie, dort hoffte er des Alpdrucks ledig zu werden. „Aber Sie werden mir beiſtehen, Sie werden einen Liebenden, Ihren Freund nicht verlaſſen“, redete Hermann eifrig weiter. „Sie dürfen nicht! Sie, mit Ihrem Verſtande, Ihrer Ruhe“ — beinahe hätte er das verrätheriſche, „Mit Ihrem Gelde!“ ſich ent— ſchlüpfen laſſen — „Sie ſind der geborene Beſchützer der Liebenden, Sie werden mir Gabriele ſuchen hel— Bere „Ja, ja!“ murmelte der Andere, der keinen Wunſch hatte, als von ihm loszukommen und allein zu ſein, allein mit ſeinen Gedanken und den wechſelnden Bil— dern unendlicher Möglichkeiten. „Doch, was ſchwatze ich“, fuhr Hermann ſich vor die Stirne ſchlagend fort, „habe ich das Wichtigſte nicht vergeſſen! Ich bin Ihnen die Erzählung ſchuldig wie dies Alles kam; Sie müſſen in das Geheimniß dieſer Liebe eingeweiht ſein, um ...“ Endlich hatte ſich Karl ermannt; noch ein Ge— heimniß! An dem, was er gehört, hatte er für den heutigen Abend genug. „Ein andermal“, bat er. „Schon 28 ein Viertel über die ſiebente Stunde .. . Ich darf eine wichtige Conferenz nicht verſäumen.“ „Sie mahnen mich zur rechten Zeit“, entgegnete auch Hermann, „das neue Ballet ...“ „Hat ſchon begonnen“, meinte Karl. „Alſo auf Wiederſehen!“ „Sie ſchenken mir in den nächſten Tagen ein Plauderſtündchen, nicht wahr, in der Dämmerung?“ „Ja wohl, ja wohl!“ „Arm in Arm mit Dir . . . Gabriele für immer!“ ſo ſtürmte der Offizier aus dem Saale, ſchüttelte auf der Schwelle des Hauſes dem Freunde noch einmal die Hand, warf ſich in einen leeren, langſam vorüber: fahrenden Wagen . .. dahin war er im Nebel.. „Und das nennt ſich Liebe!“ grübelte der Kauf— herr. „Liebe, Leidenſchaft — und ſieht verächtlich auf die Geldmenſchen herab, die Convenienzheirathen ſchlie⸗ ßen!“ — Freilich, was hatte er ſich darum zu küm—⸗ mern, daß der ſchöne ritterliche Graf für Gabriele ſchwärmte und einer Tänzerin nachlief? Ja noch mehr, was war Gabriele für ihn? — Ein Schatten. Allein dieſer Schatten fing an, ihn zu verfolgen, zu beunruhigen. Seit wenigen Stunden hatte ſich ein unheimliches Netz um ihn geſponnen, aus den unſchein⸗ barſten und einfachſten Vorfällen des Alltagslebens — 29 ein Netz, deſſen feſt verſchlungene Maſchen ihm ſchon unzerreißbar dünkten. Und mit ihm zugleich war jene Gabriele darin gefangen. Durfte er noch daran zwei— feln, daß es ihr Auge geweſen, das vorhin brennend an dem Becher gehaftet? Dem Becher, der ihr nur zu vertraut war, aus dem ſie wie oft getrunken haben mochte ... Liebe und Eiferſucht, Rache und Tod, Zaubertränke ... Lucretia Borgia's Becher ... Hier wurde der Träumende von einem Vorübergehenden, an den er angerannt war, ſo heftig zurückgeſtoßen, daß die Proſa der Straße und die Empfindung der Wirk— lichkeit ihn aus dem Abgrund ſeiner phantaſtiſchen Vorſtellungen riſſen. Eine Weile nahm der Verſtand und die nüchterne Ueberlegung wieder die Herrſchaft ein. Die Geſellſchaft der Menſchen, das Treiben und Wirren eines großen Wirthshauſes wird deine Grillen zerſtreuen, dachte er und trat in eine der glänzenden und reich ausgeſtatteten Wirthſchaften ein, die hier mit den feinſten und ausgeſuchteſten Leckerbiſſen hinter den Spiegelſcheiben das Auge erfreuen und den Gau— men locken. 8 Indeſſen verſuche nur einer, die Geiſter zu bannen! Zwar hatte Karl einige Bekannte getroffen und Ge— ſpräche mit ihnen geführt, als er aber einige Stunden ſpäter ſich allein in ſeinem Bibliothekzimmer fand — 30 hier pflegte er, und ſeine Diener wußten es, eine Zeit vor dem Schlafengehen noch mit Leſen zuzubringen — war er wie mit einem magiſchen Schlage wieder in die phantaſtiſche Welt verſetzt. Sorgfältig geordnet lagen die Briefe, Sendungen und Zeitungen, die wäh— rend ſeiner Abweſenheit eingelaufen waren, auf dem Tiſche; über ihnen ragte auf einem Unterſatz von ge⸗ ſchnitztem Eichenholz der Becher auf. Der Juwelier hatte Wort gehalten und das Kunſt⸗ werk noch am ſelben Tage dem Käufer geſandt. Wie verwünſchte Karl die Pünktlichkeit des Mannes! In der hellſten Beleuchtung glänzte der Becher; nicht nur die einzelnen Figuren des Reliefs, auch das Blatt⸗ und Arabeskenwerk um Rand und Fuß traten deutlich und ſcharf hervor. Karl fürchtete ſich zuerſt, die Hand darnach auszuſtrecken, als könnte die bloße Berührung ihm ſchon ſchaden und die magiſche Wirkung auch ihn ergreifen. Dann überwand die Luſt und Freude des Kenners, etwas wie Scham über ſeine Angſt, das innere Widerſtreben. Von allen Seiten betrachtete er den Becher; da war das Wappen der Borgia mit der päpſtlichen Tiara darüber und die Jahreszahl 1501. Vielleicht hatte der Becher zu dem koſtbaren Geräth ihres Brautſchatzes gehört, den Madonna Lucretia, die Tochter des Papſtes Alexanders VI., in jenem Jahre 31 ihrem dritten Gemahl Alfonſo von Eſte nach Ferrara brachte. Ein wenig zitterte Karl doch die Hand ... aber dir wird ja keine Lucretia, keine Gabriele einen Trank der Liebe oder des Todes darin kredenzen, trö— ſtete er ſich. Wieder, wie er es ſchon oft im Leben beobachtet hatte, beruhten die ſcheinbar wunderbarſten Verknüpfungen und ſeltſamſten Erſcheinungen auf einer häßlichen und dürftigen Wirklichkeit. Durch wie viele ſchmutzige Wucher- und Hehlerhände mochte dieſer Becher gewandert ſein, ehe er in die Hände des Frei— herrn von Ruhdorf gelangte und kurze Ruhe darin fand. Doch hienieden iſt nichts als Wechſel, Bewegung, Kampf. Kaum hat Ruhdorf die Augen geſchloſſen, haben die Erben nichts Eiligeres zu thun, als ſeine Sammlungen, ſeine Kunſtſchätze wieder zu verkaufen und zu zerſtreuen. Und ſo, auf dem natürlichſten und gemeinſten aller Wege dieſer Welt, iſt das letzte Stück aus dem Brautſchatz Lucretia's auf den Tiſch Karl's gekommen. „Ruh' aus“, ſagte der neue Beſitzer halblaut, als ob der Becher ihn verſtehen könnte, „ich werde nicht aus dir trinken, du wirſt bei mir ein ſtilles Da⸗ ſein nach ſo langer Irrfahrt führen!“ Zweites Kapitel. Am nächſten Tage hatten die phantaſtiſchen Vor⸗ ſtellungen für Karl gar viel von ihrem Schimmer und Flimmer verloren; ſie hatten graue Alltagskleider an⸗ gezogen wie die anderen Dinge, Ereigniſſe, Erinnerun⸗ gen und Begriffe. Die Diener, die Geſchäfte, die Stunden gingen den gewohnten Gang. Die Jagd nach Gabrielen hatte Karl beinahe ſchon aufgegeben, als Vorwand für ſeine Trägheit ſchützte er, um ſich ſelbſt zu täuſchen, vor, daß er doch erſt Hermann's Geſchichte kennen müſſe, ehe er in dieſer verwickelten Angelegen- heit für die Liebenden Partei ergriffe. In der Muße, die ihm der Tag ließ, fiel ihm ein, einen längſt ver⸗ ſchobenen Beſuch in einem befreundeten Hauſe zu ma⸗ chen. Während ihres Sommeraufenthaltes in Ems war der Tochter des Hauſes ein ſchwerer Unfall zu— 33 geſtoßen, von dem fie ſich nur langſam erholte. Für Karl wäre es eine doppelte Pflicht geweſen, ſich nach dem Befinden des jungen Mädchens zu erkundigen; doppelt, denn Cäcilie Grunow war ſeine Jugendfreun— din — ſie hatten zuſammen das Tanzen gelernt — und eine Weile war in beiden Familienkreiſen von der Verheirathung der „beiden einzigen Kinder“ die Rede geweſen. Da würden rund ein paar Millionen zuſammengekommen ſein, pflegte Herr Moriz Meyer zu ſagen; und calculire, entgegnete Karl darauf, die Langeweile hätte die Zinſen bezahlt. Wie dem nun auch ſei, der Plan hatte ſich zerſchlagen, noch ehe er beſtimmte Form angenommen. Aeußerlich war das Freundſchaftsverhältniß der beiden Familien indeß auf⸗ recht erhalten worden. In liebenswürdigſter Weiſe empfingen die beiden Damen, Mutter und Tochter, den alten Bekannten. Karl hatte ſich, im Gefühle ſeines Fehlers, gleichſam um ſein Verſäumniß wieder gut zu machen, mit zwei der ſchönſten Blumenſträuße, die in dieſer Herbſtzeit noch aufzutreiben waren, bewaffnet; mit lächelndem Dank nahmen und belohnten die Damen ſein Geſchenk. „Hat Ihnen aber eine Ahnung nicht zugeflüſtert“, bemerkte Cäcilie, die herrlichen Roſen bewundernd, „daß wir jetzt hier im Hauſe drei Grazien ih — die Frenzel, Lebensräthſel. I. 34 Mutter iſt noch immer die Schönſte und wird ſtets die Beſte unter uns bleiben — und daß Sie uns alſo drei Sträuße ſchulden?“ In demſelben Augenblicke erhob ſich in einem der Nebenzimmer eine Frauenſtimme im Geſange von ſel— tener Kraft und Schönheit. „Unſere neue Hausgenoſſin“, erläuterte die Mutter. „Meine theuerſte Freundin, meine Lebensretterin“, ſetzte die Tochter lebhaft und feurig hinzu. „Wenn ich die Bitte wagen dürfte“, entgegnete Karl, „mich einer jo ausgezeichneten Sängerin vorzu⸗ ſtellen —“ „Ja, ja!“ unterbrach ihn Cäcilie. „Ich gehe hin⸗ über und hole ſie. Meine Gabriele wird Ihnen ge⸗ fallen.“ „Gabriele?“ — wollte Karl rufen. „Eine junge, ſehr gut erzogene Dame, eine Geſanglehrerin“, ſagte darüber ſchon Cäciliens Mutter, während die Tochter das Zimmer verließ, „die wir in Ems kennen lernten. Eines Halsleidens wegen hatten die Aerzte ſie dorthin geſchickt. Sie lebte eingeſchränkt und zurückgezogen in einer kleinen Wohnung deſſelben Hauſes, das wir uns ausgewählt. Die vornehme, ſittſame Erſcheinung, im⸗ mer in ſchwarzer Kleidung, ließ ſich nicht überſehen; bald waren die beiden Mädchen unzertrennlich. Einige 35 Familien aus der Stadt, in der Gabriele bisher ge⸗ 1-7 DE „Wo?“ unterbrach ſie haſtig Karl. „In Weimar“, antwortete die Frau. „Der Abbé Liszt hatte eine große Theilnahme für ihr Talent ge⸗ zeigt. Sie gaben ihr alle die beſten Zeugniſſe. So hatte ich gegen Cäciliens ſchwärmeriſche Freundſchaft für Gabriele nichts einzuwenden. Ein Zufall ſollte ſie mir bald unendlich theuer machen. Bei einem weiteren Ausflug ins Lahnthal hatten ſich die beiden Mädchen von der übrigen Geſellſchaft getrennt und irrten auf den Höhen und in den Schluchten einſam umher. Waghalſig, wie Cäcilie iſt, war ſie trotz der Warnung der älteren Freundin auf eine Felszacke ge⸗ klettert, verlor das Gleichgewicht und ſtürzte den Ab: hang nieder ...“ „Um Gottes willen!“ „Zum Glück war Gabriele da, die ihr mit eigener Lebensgefahr nacheilte und ſie gerade da, wo die Fels— wand jäh in die Tiefe fällt, mit ihren Armen auffing. Doch war ſie arg zerſchlagen, ein heftiges Nervenfieber ſtellte ſich ein, während deſſen ſie Gabriele wie eine Schweſter, wie eine zweite Mutter gepflegt hat — denn ich, lieber Freund, ich war von dem Unglück und dem Jammer eine Weile rathlos und ſtarr ...“ 3* 36 „Und das Fräulein hat Sie hierher begleitet?“ „Sie wird den Winter in unſerem Hauſe zubrin gen und ſich vielleicht ganz in der Hauptſtadt nieder: laſſen, wenn ſich die Verhältniſſe ihr günſtig erweiſen .. . fie will Geſangunterricht geben und in Con⸗ zerten ſingen. Ich denke, lieber Herr Strupp, im Fall wir Beide uns ihrer annehmen ...“ „Verehrte Frau, verfügen Sie im Voraus über meinen geringen Einfluß.“ „Sie gelten nicht nur in der Geſellſchaft, ſondern auch bei den Muſikern für einen berufenen Kritiker. Aber da kommt unſer Schützling, er mag ſelbſt ſeine Sache führen.“ Die beiden Mädchen traten Arm in Arm ein; Gabriele war die ſchönere; eine ſchlanke Geſtalt mit dunklen Augen, zu denen die blonden ſchönen, leicht um die Schläfe gewellten Haare in einem eigenthüm⸗ lich reizenden Gegenſatz ſtanden, allein die Farbe ihres Geſichts war bleich, ihre Züge hatten einen ſchwer⸗ müthigen Ausdruck, was ſie mehr als die Freundin als diejenige erſcheinen ließ, die ſich von einem langen Krankenlager erhoben. „Fräulein Gabriele Oſten“ — „Herr Karl Strupp“ . . . Für ihn wenigſtens hatte die Vor⸗ ſtellung keinen Sinn; ſobald er den Namen Gabriele 37 gehört, war er des feſten Glaubens geweſen, daß ſich der andere, der entſcheidende Name Oſten daran knüpfen würde. Nicht dies allein; wie ſie ihm jetzt gegenüber ſaß, erkannte er in ihr die ſchwarzgekleidete Dame, die er geſtern Abend vor dem Goldſchmiedsladen ge— troffen; wieder wie da dämmerte eine noch ferner in der Vergangenheit liegende Erinnerung in ſeiner Seele auf. Auch ſie mochte ſich ſeiner und der geſt⸗ rigen, flüchtigen Begegnung entſinnen; ſie erröthete und warf ihm einen fragenden, halb um Schweigen bittenden Blick zu. Des letzteren konnte ſie im Voraus verſichert ſein, nichts war Karl's Weſen fremder als ein unvorſichtiges Geplauder, das Andere verletzte oder in Verlegenheit brachte. Aber nicht vermeiden ließ es ſich, daß ſein Blick dem ihrigen antwortete und unverbrüchliche Schweigſamkeit gelobte; zwei Strahlen, die ſich begegneten und unbewußt eine Zauberbrücke zwiſchen zwei Menſchen bildeten. Munter floß das all— gemeine Geſpräch fort. Die Muſik, die Oper, welche Neuigkeiten in Conzerten und auf den Theatern der nahende Winter bringen würde, eine und die andere kleine Geſchichte aus Ems, eine lebhaftere Hin— und Gegenrede über das Spiel berühmter Klavier— virtuoſen; wie im Fluge rannen die Tropfen der Zeit vorüber. Zuletzt bat Cäcilie die Freundin, das Lied, 38 das fie vorhin begonnen, zu Ende zu fingen. Ohne Sträuben willigte Gabriele ein und trat an den Flü⸗ gel. Karl war gern bereit, ſie darauf zu begleiten. Es war eine Schumann'ſche Compoſition; vielleicht noch ergreifender als der ſeelenvolle Vortrag Gabrielens war für ſein muſikaliſches Ohr die Macht des Könnens, die vollendete Technik, die ſich darin ausprägten. Karl wollte eben ſeine Bewunderung für ihren Geſang aus⸗ drücken, als ſie ihren Kopf ein wenig zu ihm hinunter⸗ neigte — ſie ſtand hinter ihm und ſeine Finger irrten noch auf den Taſten — und leiſe, eindringlich fragte: „Sie haben den Becher gekauft?“ Vor allem Kommenden, was geſtaltlos und dunkel aus der Zukunft herüberdrohte, hatte Karl eine ange⸗ borene, beinahe unüberwindliche Furcht; ſtand aber die Gefahr ſichtbar und greifbar, im begrenzten Raum, ihm gegenüber, ſo wußte er ſich zu beherrſchen und muthig — wenn auch mit geſchloſſenen Augen — darauf loszugehen. „Ja“, entgegnete er ruhig und leiſe. Da Cäcilie mit ihrer Mutter jetzt herantrat, ver⸗ bot ſich jedes weitere Geflüſter. Nicht einmal beim Abſchiede war es möglich, ein geheimes Zeichen oder Wort auszutauſchen, doch glaubte Karl, als ihm Ga⸗ briele wie die anderen Damen die Hand reichte, ein 39 Zittern der feinen Finger zwiſchen den ſeinigen zu empfinden. Daß mit dem Dämon, der ihn in dieſe Angelegen⸗ heit und Verwickelung hineintrieb, nicht mehr zu ſtrei— ten ſei, daß jedes Widerſtreben mit einer neuen Nieder⸗ lage enden müſſe, davon hielt ſich Karl nach dieſen Proben von der Macht des Zufalls für überzeugt. Laß doch den Strom der Dinge fluthen wie er will, wenn Dir nur ſeine Wogen nicht über dem Kopfe zu— ſammenſchlagen! Ein ungewöhnliches Mädchen war Gabriele in jedem Falle, kein Gänſeblümchen, das überall auf der Wieſe blüht. Um ſo merkwürdiger, daß ſie ſich, die offenbar ein reicheres und freieres Leben gekannt, in Dienſtbarkeit begab, von ihrem Ta⸗ lent und ihrer Arbeit ihr Daſein friſten wollte, wäh— rend ſie in Wahrheit über eine Summe verfügen konnte, die ihr überall ein unabhängiges Auskommen geſichert. Oder wußte ſie nichts von der Schenkung, die der Freiherr von Ruhdorf ihr vermacht? Wofür vermacht? Weswegen? Seine Tochter war ſie nicht, war ſie ſeine Geliebte geweſen? Aber würde ſie dann eine ſo ſittenſtrenge, puritaniſch ernſthafte Frau wie Cäciliens Mutter in ihr Haus geladen haben? Freilich, ſie konnte getäuſcht worden fein; iſt Tartuffe klug, Lady Tar— tuffe ift noch klüger, anmuthiger und ſchmiegſamer. 40 Eins war über allen Zweifel: fürchtete Gabriele aus irgend einem Grunde die Nachſtellungen der Gräfin Lindenburg, die Leidenſchaft Hermann's — keine ſicherere Zuflucht hätte ſie wählen können, als das Haus Grunow. Frau Leonore Grunow war eine heftige und unverſöhnliche Feindin des Adels; Spötter behaupteten, weil ſie in ihrer Jugend einen adeligen Offizier geliebt und keine Gegenliebe gefunden habe. Warum ſich Karl über dieſe Entdeckung freute, war ſchwer zu ſagen, aber ebenſo wenig vermochte er das freudige Gefühl wegzuleugnen, mit dem ihn der Ge— danke erfüllte: eine ſtarke und hohe Schranke trenne Hermann und Gabriele. Es war ein ſchlimmes Vor⸗ zeichen, daß er feiner Rolle eines Beſchützers der Lieben: den ſchon untreu wurde, noch ehe er ſie recht begonnen hatte. Jedes Ding, jagt das Alltagswort, hat zwei Sei: ten; ſo war es auch mit dieſen Ereigniſſen. Wenn ſie Karl's Anlage zum träumeriſchen Grübeln förderten, wenn ſie ihn ängſtigten und quälten, ſo gaben ſie ihm doch auch, was er ſich ſo lange vergeblich gewünſcht, eine andauernde Beſchäftigung, eine Arbeit, die er ſelbſt vollenden mußte, bei der er nicht gut die Hülfe eines Andern in Anſpruch nehmen konnte. Vielleicht 44 hatte die Gräfin doch Recht und die Briefe ſeines Vaters gaben ihm einen Aufſchluß über die Herkunft, die Vergangenheit Gabrielens. Um ſo mehr, da ja auf jenem Dokument die Worte ſtanden: ihm — dem alten Herrn Strupp — wäre Gabriele Oſten ſehr wohl bekannt. Eine leichte Mühe war es nun nicht, die Brief- ſchaften des Verſtorbenen zu durchforſchen. Viele Käſten waren bis an den Rand damit gefüllt. Noch aus früherer Jugendzeit waren einige Papiere, Briefe, Auf⸗ zeichnungen, Tagebücher da. In ihnen allen fand ſich der Name Ruhdorf nicht. Das Wahrſcheinlichſte blieb immer, daß beide Männer ſich erſt in ſpäteren Jahren kennen gelernt. Vermuthlich während ich in der Fremde war, ſagte Karl, vor dem Schreibtiſch des Vaters ſitzend. Da iſt guter Rath theuer ... denn in der letzten Zeit ſeines Lebens hatte der alte Herr Strupp in ſeiner peinlichen Sorglichkeit, mit der er ſonſt jeden Brief aufbewahrt, nachgelaſſen; die Geſchäfte und die Correſpondenz waren ihm über den Kopf gewachſen, und was nicht unumgänglich nothwendig für die Führung und Ordnung des Hauptbuches war, wurde verbrannt oder in den Papierkorb geworfen. Da es vielen meiner Briefe ſo ergangen iſt, dachte Karl, werden die des ſeligen Ruhdorf kein beſſeres Schickſal 42 haben. Was iſt das Menjchenleben am Ende? Afche und Staub! Indeſſen wühlte und blätterte er weiter; er wollte wenigſtens für ſich ſelbſt die Genugthuung gewinnen, nichts unverſucht gelaſſen zu haben, hinter dies Geheim— niß zu kommen. Warum ſollte er von Andern den Schlüſſel borgen, der vielleicht in ſeinem Beſitz war? Und ganz unbelohnt blieb ſeine Hartnäckigkeit nicht. In einem Briefbündel, das mit einer rothen Schnur zuſammengebunden und ſeine Briefe aus New-York an den Vater enthielt, fand ſich ein Brief des Freiherrn von Ruhdorf. Er mußte ihn unmittelbar nach der Be⸗ gegnung mit Karl im Palaſte der Pariſer Weltaus— ſtellung geſchrieben haben. „Denken Sie ſich, alter Freund“, hatte Ruhdorf geſchrieben, „vorgeſtern war ich einen guten halben Tag mit Ihrem Sohne zuſam⸗ men. Beide incognito, nur beim Abſchiede gaben wir uns unſere Karten. Aßen mit einander und waren guter Dinge. Ein liebenswürdiger, unterrichteter, jun⸗ ger Mann, Ihr Karl, aber zugeknöpft! Wenn's mög⸗ lich wäre, bis über die Ohren! Wollte, er wäre etwas luſtiger und toller. Sie werden darauf ſagen: danke beſtens! Bleiben Sie in Ihrem eigenen Hauſe, Ruh⸗ dorf, und erziehen Sie da weiter. An Ihrem wilden Neffen haben Sie gerade kein Meiſterſtück der Päda⸗ 43 gogik abgelegt. — Geſtehe ich es Ihnen nur, lieber Freund, ich athme hier frei und erleichtert auf. Da⸗ heim litt es mich nicht, das Verhältniß zu meiner Schweſter, zu der ganzen werthen Verwandtſchaft, deren Haupt und Seele ſie iſt, war unerträglich ge— worden. Was wollen ſie von mir? Mein Geld, mein Gut — alle ihre Redensarten von Freundſchaft und Treue, von Ehre des Hauſes find eitel Firlefanz, verdam⸗ menswerthe Lüge. Es iſt mein Unglück, daß ich nicht ein ganzer Kerl bin, wie Sie, von Eiſen. So ſchwanke ich hinüber und herüber. Aber Sie haben wie immer auch diesmal den Nagel auf den Kopf getroffen; eine Entſcheidung muß getroffen werden. Bei meiner Rück⸗ kehr ſpreche ich mit Ihnen darüber. Gabriele iſt mit mir, ſie iſt der Stolz und die Freude meines Alters. Ohne ſie lebte ich nicht mehr. Auch ihr ſcheint es willkommen zu ſein, einmal frei aufzuathmen; hier verfolgen ſie weder Leontinens Baſiliskenblicke, noch Hermanns Liebestiraden. Ihr Sohn will nach Eng— land, nach Amerika ... eine geraume Weile habe ich nachgeſonnen, ob es nicht auch das Beſte für mich wäre, ich machte Hab' und Gut zu Gelde und ent— ſchwände mit Gabrielen in die weite, in die ferne und freie Welt! Europamüde — ich war es immer und klebte doch unlöslich an der Scholle, noch dazu an 44 einer märkiſchen Sandſcholle, und jetzt mit ſechszig Jahren und weißen Haaren! Lachen Sie mich aus, eiſerner Strupp, aber behalten Sie mich lieb!“ Ein Beſonderes war aus dieſem Briefe nicht zu erſehen, aber er beſtätigte Karl's Ahnung, daß er Gabriele ſchon vordem geſehen. Mit der Gewißheit, ſich nicht zu täuſchen, mit dem Beweis, „ſchwarz auf weiß“ in Händen, konnte er eine Annäherung wagen; wenn ſie dieſelbe nach Allem, was vorangegangen, ſogar erwartete? Wieder und wieder las Karl die Zeilen durch; wie gern hätte er ein verlorenes Wort über den Eindruck darin gefunden, den er auf Gabriele gemacht. So eitel iſt der Menſch! — Daß der Frei⸗ herr ſich nicht des Weiteren über ſeine Begleiterin, ſeine Beziehungen zu ihr ausgelaſſen, erklärte ſich leicht. Karl's Vater war auf das Genaueſte in dieſe Ver⸗ hältniſſe eingeweiht; dem Freiherrn mochte es peinlich ſein, ohne Noth daran zu rühren; darum ſchwieg er lieber ganz davon und überließ es dem verſtändniß⸗ vollen Leſer, zwiſchen den Zeilen die Wahrheit zu finden. Der Haß der Gräfin Lindenburg und die Liebe ihres Sohnes zu Gabrielen datirten ſchon von längerer Zeit her; in der Familie war ſie der beſtändige Zankapfel geweſen. Aber wie ſie in dieſen Kreis gekommen, der ihr ſo feindſelig war; welche Stellung ſie darin be⸗ 45 hauptet, daß ſie, die doch nach dem Eindruck ihres ganzen Weſens ſtolz und voll hohen Selbſtgefühls war, die unausbleiblichen Kränkungen, Argwohn und Ver⸗ dacht ertragen? Nach wie vor war es ein ungeläftes Räthſel. Für heute gab Karl jedes fernere Nachforſchen in den Papieren ſeines Vaters auf; wenn er auch noch keinen Weg durch das Geſtrüpp entdeckt, ſo glaubte er doch den Punkt gefunden zu haben, wo es am leichteſten zu durchbrechen war. Im Uebrigen hoffte er auf die Erzählung Hermann's, die Alles aufklären würde. Freilich, in einem mochte ſich der ſelbſtgefällige Freund geirrt haben. Nach den unzweideutigen Worten Ruhdorf's hatte ſich Gabriele mehr den Bewerbungen ſeines Neffen entzogen, als daß ſie dieſelben aufge— muntert. Wie ſollte ſie auch, ſagte Karl, Gabriele iſt kein Mädchen, das an flüchtigen Artigkeiten und ſtür⸗ miſchen Zärtlichkeiten Gefallen hat; ſie kann Hermann nicht lieben, ſie iſt zu ernſt und zu ideal für eine ſolche Thorheit. Dabei vergaß er nur, daß er ſelbſt bis vor Kurzem den jungen Dragoneroffizier bewun— dert und geprieſen hatte. Machte ihn eine plötzliche geheime Eiferſucht ſo hellſehend für die Schwächen des Freundes? Die nächſten Tage vergingen indeß, ohne daß 46 Hermann bei ihm vorgeſprochen, auch im Kaſino und auf den Promenaden war er nicht anzutreffen. Es widerſtand Karl's Gefühl für das Schickliche und Rück⸗ ſichtsvolle, in des Grafen Hauſe nach ihm vorzufragen. Hätte man dieſe Eile nicht dahin ausdeuten können, daß er ſich gewaltſam in Hermann's Vertrauen drän⸗ gen wolle? | Heute hörte er nun im Comptoir von Herrn Moriz Meyer, die Gläubiger des Grafen Lindenburg ſeien ungeduldig geworden, es würde der Familie nichts übrig bleiben, als das Gut Heinrichsfelde in der Nähe der Hauptſtadt zu verkaufen. „Wollen Sie es kaufen, Herr Meyer?“ hatte Karl gefragt. — „Wäre zu über⸗ legen, Herr Strupp .. . Zwei und eine halbe Meile von der Stadt; Halteſtelle einer Eiſenbahn, viel Raum .. in drei Jahren, bei der ſteigenden Woh— nungsnoth in der Stadt ... Sind Sie nicht mit den Lindenburgs bekannt? Gegen einen mäßigen Kauf⸗ ſchilling . . . wir zahlen gleich und baar ... ein Schlag auf den Buſch . .. Guten Morgen, Herr Strupp!“ War die Noth Hermann's ſo groß, daß er und die Mutter im Ernſt an einen ſolchen Verkauf dachten, ſo konnte Karl mit einer gelegentlichen Geldſumme dem Freunde nicht mehr hilfreich beiſpringen. Groß⸗ 47 müthig zerriß er die kleinen Wechſel und Schuldſcheine, die er von dem Grafen in ſeiner Brieftaſche aufbewahrte, überwand ſeine Bedenklichkeiten und begab ſich nach dem Lindenburg'ſchen Palaſte. Das war eins der älteſten Gebäude, aus den erſten Jahren des vergan— genen Jahrhunderts, in jener ſtillen Straße der nord— deutſchen Hauptſtadt, wo halb aus Laune des Zufalls, halb in beſtimmter Abſicht ſich die Häuſer der Prinzen und Fürſten, der erlauchten Geſchlechter des Landes und der leitenden Miniſter an einander gereiht haben. Vor dem Palaſte der Lindenburgs erweiterte ſich die Straße zu einem mit Kaſtanien⸗ und Lindenbäumen beſetzten Raſenplatz. Düſter und grau lag das Haus da; die Fenſter des Erdgeſchoſſes mit Eiſenſtäben be— ſchirmt; eine Rampe mit einem altmodiſchen Eijen- gitter ſtieg vor ihm auf, es ſah unfreundlich und grämlich aus. Niemals war dieſer Ausdruck des alten Hauſes Karl ſo ſcharf und eigenthümlich aufgefallen, als an dieſem Tage. Es ſollte niedergeriſſen werden, ſagte er bei ſich, es ſperrt die Straße und verdüſtert den Blick. Der Wagen der Lindenburgs fuhr gerade vor, als Karl in die Thüre trat. „Der Herr Graf ſind ausgeritten“, meldete der Pförtner und ſchon wollte Karl ſich wieder entfernen, da rauſchte ein 48 ſchweres graues Seidenkleid die teppichbelegte Treppe herab. „Guten Tag, Herr Strupp“, ſagte die Gräfin — ſie war es — mit entgegenkommender Höflichkeit. „Sie wollten zu meinem Sohne?“ Und als Karl bejahte, fuhr ſie fort: „Darf ich Sie einladen, mich in meinem Wagen zu begleiten? Er iſt nach Heinrichsfelde hinaus— geritten. Ich habe denſelben Weg. Welche Freude würden Sie ihm bereiten, ihm und mir!“ Zweimal war er erſt mit der Gräfin zuſammen⸗ getroffen und beide Male hatte ſie ihn in das höchſte Erſtaunen und damit zugleich in eine gewiſſe Willens⸗ loſigkeit zu verſetzen gewußt; rathlos, keines Entſchluſſes fähig, folgte er ihrem Wink. Im Wagen ſitzend, als es zu ſpät war, warf er ſich ſeine Nachgiebigkeit vor und tröſtete ſich damit, daß er auf dieſe Weiſe in aller Harmloſigkeit das Landgut zu ſehen bekäme und zu einem eigenen Urtheil gelangte, ob der Kauf deſſelben ſich lohnen würde, oder nicht. „Ich bin Ihnen noch meinen Dank für die ſo ſchnelle und pünktliche Erledigung meiner Bitte ſchul— dig“, fing die Gräfin nach einer Pauſe an. „Nur unſere Schuldigkeit, meine und meines Compagnons Schuldigkeit“, erwiderte Karl. „Zwanzigtauſend Thaler einer Dame zu ſchenken 49 — hat man fih in Ihrem Comptoir nicht darüber gewundert? Mein ſeliger Bruder war ein alter, wun— derlicher Mann ...“ „In Geldangelegenheiten, Frau Gräfin, wundern ſich Kaufleute nicht und machen ſich keine Gedanken über die Abſichten ihrer Kunden. Obenein bei Fer, N 5 „Bei einer ſo unbedeutenden Summe“, ergänzte die Gräfin. „Ich habe mir ſagen laſſen, die Herren der Börſe rechneten jetzt nur noch mit Millionen. Aber es kommt doch immer darauf an, wofür das Geld gegeben wird. Und zwanzigtauſend Thaler als Geſchenk oder Vermächtniß für eine Vorleſerin, eine Geſellſchafterin ...“ „Gabriele — jenes Fräulein Gabriele Oſten eine Geſellſchafterin!“ „Warum nicht, Herr Strupp?“ fragte die Gräfin lauernd. Aber ſie hatte die Widerſtandskraft Karl's unter⸗ ſchätzt. Wohl überrumpelte ſie ihn durch ihre plötz— lichen Einfälle und die Energie ihres Willens, allein die Heftigkeit ihres Angriffs machte ihn auch noch ein— mal ſo behutſam und zurückhaltend, als er es ſchon nach der Anlage ſeines Charakters war. „Alſo eine deutſche Jane Eyre“, antwortete er mit Pankeefroſtig— Frenzel, Lebensräthſel I. 4 50 keit, „nur daß der deutſche Rocheſter zur Heirath zu alt war.“ Eine Weile wurde es ganz ſtill zwiſchen Beiden. Karl betrachtete ſeine tadelloſen doppelknöpfigen Hand: ſchuhe, die Gräfin ſchaute, um ihn nicht anzuſehen, zum Wagenfenſter hinaus. Im ſchnellen Laufe ging es durch die Straßen dahin, beinahe durch die ganze Breite der Stadt, vom Weſtende nach einem der öſt— lichen Thore. „Sie kennen Heinrichsfelde?“ begann dann Leon⸗ tine von Neuem. „Wenn nicht das Schloß, doch das hübſch gelegene Dorf; es war von jeher ein Lieblings ort der Hauptſtädter für Sonn- und Feſttage.“ Karl vermochte ſich indeſſen nicht zu entſinnen, daß er jemals dort geweſen. „Nun, ſo lernen Sie es jetzt kennen“, meinte die Gräfin. „Urſprünglich war das Schloß fürſtlicher Hausbeſitz, ſeit beinahe hundertfünfzig Jahren iſt es in meiner Familie ge— weſen.“ — „Der Grafen Lindenburg?“ — „Nein, der Ruhdorfs.“ — „Ah!“ — „Nach dem Tode meines Bruders iſt es mir und meinem Sohne zugefallen.“ „Und der Freiherr Heinrich von Ruhdorf hat es bewohnt?“ „Oft und lange; manches Jahr iſt er kaum ein Dutzendmal in der Stadt geweſen; damals liebte er 51 das Landleben und beſchäftigte ſich angelegentlich mit der Verbeſſerung ſeiner Ländereien.“ „Was trägt der Boden?“ fragte Karl gedanfen- los, um den Faden des Geſprächs nicht abreißen zu laſſen. „Es iſt hauptſächlich Gartenwirthſchaft; Schloß Heinrichsfelde hat die beſten Spargelbeete und reichen Gemüſebau. Der Reinertrag iſt nicht gering.“ Darüber war der Wagen durch den alten Thor— bogen gefahren und rollte nun auf der breiten gut gepflaſterten Fahrſtraße dahin. Auf jeder Seite faſſen ſie drei Reihen von Linden und Pappeln ein; durch die ſtark entlaubten Bäume fiel der matte Sonnenſchein des Herbſtes. „Dort alſo lebte der Freiherr“, ſagte Karl. „Und iſt dort auch geſtorben, in einer Januar— nacht 1868”, entgegnete die Gräfin. „Wir haben Alles in ſeinem früheren Zuſtand gelaſſen und nichts an der inneren Einrichtung geändert. Es war nie unſere Abſicht, das Schloß dauernd zu behalten ...“ Das iſt der Punkt, ſprach der Bankier in Karl. Ich glaube, ſie bietet es mir zum Kauf an, Vorſicht! „Mein Sohn“, ergänzte Leontine ihre hingewor— fene Aeußerung, „hat weder Talent noch Neigung zur Landwirthſchaft, die Nähe der Hauptſtadt würde ihn i 35 52 obenein zerſtreuen und beſtändig von feinen Gejchäften abziehen. Auch ich meinestheils bin nicht für das Landleben geboren, ich ziehe die Stadt vor. Dazu haben wir noch immer für das Stammgut der Linden⸗ burgs zu ſorgen. Ach, Herr Strupp, Grundbeſitz iſt in unſern Tagen kein Segen mehr, ſondern nur noch eine Laſt!“ N „Verſtehe ich Sie recht, Frau Gräfin, jo wären Sie und Graf Hermann nicht abgeneigt . . .“ „Heinrichsfelde zu verkaufen?“ rief ſie haſtig. „Gewiß nicht abgeneigt! Und ich habe dabei im Stillen auf Ihren Rath, auf Ihre Einſicht gerechnet. Aber man ſagt uns, das Schloß wäre wohl eine Zierde, ein Schmuck des Lebens, allein ...“ „Seine Erhaltung zehrt auf, was es einbringt?“ „So behaupten die Leute, obgleich ich es nicht glaube. Und wenn auch, wie vielen reichen Kauf: herren würde ein ſo gefälliger Landſitz angenehm und willkommen ſein!“ Die Anſpielung war deutlich, und Karl verbiß ein Lächeln. Während vorhin ſein Compagnon den wahrſcheinlichen Gewinn für die Zukunft aus dieſem Grundſtücke berechnet hatte, ſuchte die unruhige Frau neben ihm, in dem Drang und in der Noth des Augen— blicks, ſich um jeden Preis eines Beſitzes zu entledigen, 53 der für ſie nur in Geld verwandelt Werth hatte. Wer im Leben warten kann, Geduld haben . .. das iſt die Hauptſache. — „Da find wir“, ſtreckte Leontine die Hand aus. „Mich fröſtelt, ſo oft ich dem Hauſe nahe komme! Mein armer Bruder ... So ſchnell dahin! Dieſe grauen Mauern, dieſe hellen Fenſter wecken keine an— genehmen Erinnerungen in mir.“ Rechts blieb das freundliche Dorf liegen; ein kurzer mit Kaſtanien beſtandener Weg führte zum Schloſſe. Frei ſtand es da, hinter einer Gruppe alter Bäume. Ein kleiner binſenumbüſchter Teich trennte es von den Wirthſchaftsgebäuden und den Gemüſe— gärten, die ſich nach dem Dorfe zu ausdehnten. An der Bauart war nichts Sonderliches zu rühmen. Zwei Stockwerke, auf einem hohen Erdgeſchoß ruhend, neun Fenſter in der Front, vor dem des mittelſten Geſchoſſes ein moderner Balkon mit kunſtvollem Eiſengeländer, das Ganze in gelbgrauem Anſtrich; grüne hölzerne Jalou⸗ ſieen vor allen Fenſtern. Die Spiegelſcheiben im erſten Stockwerk gaben dem Gebäude etwas Lichtes und Vor— nehmes; alles Uebrige darin und darum war von der bekannten kühlen Nüchternheit märkiſcher Schlöſſer aus der Zeit des erſten Friedrich. In dem Flur des Hauſes kam Hermann mit ver— 54 drießlichem Geſicht der Mutter entgegen; ein wenig heiterte es ſich auf, als er an ihrer Seite den Freund erblickte. Aber das Zeichen des Kummers, der Sorgen und der Verlegenheit ſtand zu ſcharf ſeinem ſonſt ſo offenen und lebensheiteren Antlitz aufgedrückt, als daß es Karl nicht hätte auffallen ſollen. Die bürgerliche Kleidung anſtatt der prächtigen Uniform, die er trug, hob den Unterſchied gegen früher noch ſtärker hervor. Karl hatte die Empfindung, als wäre der junge Graf in dem ſchlichten ſchwarzen Rock kleiner geworden, als wäre der Glanz ſeiner Ritterlichkeit getrübt, ſeitdem der Säbel ihn nicht mehr umklirrte. Die Gräfin be⸗ wahrte bei alledem ihre vornehme Kälte und Undurch— dringlichkeit. „Herr Strupp hatte die Liebenswürdig⸗ keit, mich zu begleiten, mein Sohn“, ſagte ſie. „Um Sie einmal wieder zu ſehen“, ſetzte Karl hinzu, „und halbwegs auch aus Neugierde, ich kenne Heinrichsfelde noch nicht.“ „Ein alter baufälliger Kaſten“, ſpottete Hermann, „mit Scharteken aus den Zeiten der Urgroßmütter. Vortrefflich für Alterthumsforſcher — ſonſt hat es kei⸗ nen Zweck.“ „Gerade dieſe Dinge reizen mich“, erwiderte Karl, „und wenn die Frau Gräfin mir geſtatten, das Haus zu beſehen ...“ 55 „Mit dem größten Vergnügen, Herr Strupp.“ Ein Diener wurde beauftragt, ihn umherzuführen. „So warten Sie doch, lieber Freund, ich komme Ihnen gleich nach“, rief Hermann, als Karl ſich mit einiger Eile dem voranſchreitenden Diener anſchloß. Aber er rief es tauben Ohren nach. Um die etwaigen Herrlichkeiten aus früherer Zeit war es Karl nicht zu thun geweſen, er wollte nur eine kurze Friſt mit ſich allein ſein und der Mutter und dem Sohn Gelegenheit geben, ſich auszuſprechen. Die Kriſis ſchien drohend zu ſein; vermuthlich hatten die Lindenburgs ſchon unter der Hand einen Käufer für das Schloß geſucht, und da das Geheimniß nicht gewahrt worden, jo hatten dieſe vergeblichen Bemühungen nur den An drang und die Ungeduld der Gläubiger vergrößert. Wenn ein alter Bau zerfällt, gleich ſind die Raben und Dohlen da, ſich einzuniſten und den letzten Nutzen aus dem Gemäuer zu ziehen. Während Karl gleichgiltigen Blicks dem Kaſtellan durch die Flucht der Zimmer folgte, auf dieſen und jenen Gegenſtand ſchaute, der ihm als hiſtoriſch denk— würdig bezeichnet wurde, ohne doch auf die weiteren Erklärungen zu hören, überlegte er, ob und wie er dem Freunde helfen könne. Das Haus kaufen? Ob⸗ gleich er nicht wußte, was damit beginnen; trotz der 96 Wahrſcheinlichkeit, daß die Wiederherſtellungskoſten den Kaufpreis erreichen würden? Um es dann ſeinerſeits zu veräußern oder auf die Ausdehnung der Stadt zu warten? Einen Wechſel auf die unbegrenzte Zukunft ziehen? — Solche Unternehmungen lagen nicht in ſeiner Art; viel eher hätte er ein Opfer auf dem Altar der Freundſchaft gebracht. Aber er fürchtete, in dieſem Falle von Herrn Moriz Meyer entweder ein Narr oder ein Häuſerſpekulant genannt zu werden, je nach— dem in einiger Zeit ſich das Geſchäft von ſeiner hellen oder von ſeiner dunklen Seite zeigte, und beides war ihm gleich unangenehm. So ging er verdroſſen, zwieſpältigen Sinnes durch die Gemächer. Kein Geiſt ſprach zu ihm aus dieſen Mauern, dieſen Tapeten und Einrichtungen. Da in einem mittelgroßen lauſchigen Eckzimmer, deſſen Fenſter nach dem Garten und nach einem mäßigen, mit einer maleriſchen Gruppe finſterer Kiefern gekrönten Hügel hinausgingen — jetzt in der Mittagsbeleuchtung brach— ten ſie durch ihre Lage und ihr tiefes Schwarzgrün in dem Herbſtton und den Herbſtfarben der Landſchaft rings umher einen beſonders eigenthümlichen melancho— liſchen Eindruck hervor — überkam ihn eine ſeltſame Empfindung; jener Schauer, den er gefühlt, als der Schleier Gabrielens vor dem Juwelierladen ihn ge— g 57 ſtreift. Ja gewiß, dies war Gabrielens Zimmer geweſen. Hier hatte die vielgeliebte und vielgehaßte Vorleſerin gelebt; etwas von ihres Weſens Duft und Art ſchien noch zurückgeblieben zu ſein und ihn anzu- wehen. Er hatte keine Muße, ſich in dem Raume um⸗ zuſehen, der Diener drängte vorwärts nach dem großen Saal, dem Prachtſtück des Schloſſes. In anderer Stimmung würde Karl nicht ohne Vergnügen den weiten hohen, dreifenſtrigen, mit feiner Stukkaturarbeit, einem noch wohlerhaltenen Deden: gemälde — Apollo auf dem Parnaß die Leier ſpielend, von den Muſen und Grazien umgeben — und Ara— beskenkränzen, die von Amoretten und Genien gehalten wurden, über den Thür⸗ und Fenſtergeſimſen geſchmück⸗ ten Saal betreten haben. Jetzt hatte er weder Sinn noch Auge dafür. Ein Langes und Breites erzählte der Diener von den Fürſtlichkeiten, die hier voreinſt getafelt, einmal auch zur Zeit der Franzoſenherrſchaft der Kaiſer Napoleon mit einigen ſeiner Marſchälle; der Seſſel, auf dem er geſeſſen, war noch vorhanden; ſchade, daß der blaue Seidenbezug ausgeblaßt und mehr— fach zerſchlitzt war. Der Kaiſer Napoleon ... was iſt mir Hekuba? wollte Karl rufen. Am liebſten hätte er den Diener nach der Vorleſerin des ſeligen Herrn gefragt, aber die Scham, auf dieſe Weiſe die Geheim— 58 niſſe des Hauſes zu erkunden, war ſtärker, als der Wunſch, Näheres von Gabrielens früherem Leben zu erfahren. In einer Ecke des Saales fiel ihm ein mo⸗ derner geſchnitzter Eichenſchrank, der die Formen der Renaiſſance nachahmte, in's Auge, er enthielt die kleine Sammlung des Freiherrn, von Gläſern und Krügen, einigen ſilbernen Gefäßen und einem halben Dutzend Majolica⸗Schüſſeln, Alles in Allem die Anfänge oder die letzten Ueberreſte einer ſolchen Sammlung. „Das beſte Stück fehlt“, ſagte hinter Karl, der näher getreten war, um das Einzelne genauer befich- tigen zu können, Graf Hermann. „Eben jener Becher, von dem ich Ihnen neulich erzählte. Indeſſen, was nützt mir der Becher ohne Wein? — Nicht wahr, Plunder? Keine Hand voll Thaler werth?“ „Die Schüſſeln ſind echt und würden leicht einen Liebhaber und Käufer finden“, meinte Karl. „Wenn er den Schrank und das Haus dazu nähme ... Das wäre!“ Auf einen Wink hatte der Diener den Saal verlaſſen. Hermann ergriff ungeſtüm beide Hände des Kaufmanns. „Wollen Sie mir den Tag bis zum Abend ſchenken? Meine Mutter fährt wieder zur Stadt zurück, nachdem ſie ihre Verhandlung mit dem Verwalter abgemacht hat. Wird wohl auch nicht die erfreulichſte ſein! War ein ſchlechtes Spargel⸗ 59 jahr. Hole der Kuckuk die ganze Landwirthſchaft! Ja, wenn man noch Regen und Sonnenſchein zaubern könnte. Eure geprieſene Wiſſenſchaft iſt eine nichtige Flunkerei ... Sie bleiben, ich zeige Ihnen das Gut, den ganzen Trödel. Sie laſſen ſich Ihren Wagen herausſchicken, unſer Johann kann die Botſchaft über⸗ nehmen. Sie Glücklicher, ohne Eltern, ohne Verwandte! Frei und reich! Wetter, ich bin der Graf Lindenburg und nicht der ſchlechteſte Offizier Seiner Majeſtät, aber ich wollte, ich wäre der Bankier Karl Strupp. Wir ſind allein — wir eſſen drüben im Krug. Der Wirth führt eine feine Küche, der Hauptſtädter wegen, die ihn beſuchen, und einen guten Keller. Abgemacht, Sie dürfen mir nicht Nein ſagen. Wir feiern den Geburts— tag meines Onkels ...“ „Ihres Onkels?“ — Hier gelang es Karl endlich, den Redeſtrom des Anderen zu unterbrechen und ein Wort einzuſchieben. Das Wirre und Sprunghafte in Hermann's Aeußerungen bewies unwiderleglich ſeine Verlegenheit und ſeine tiefe Verſtimmung. „Ja, heute am 27. Oktober war fein Geburtstag... Den Geburtstag eines Lebenden feiern iſt eine Dumm: heit. Ueber das große Glück, ein Jahr älter geworden zu ſein! Ja, wenn man kein neues vor ſich hätte! Aber das iſt die Hauptſache, wir bleiben zuſammen, trinken 60 zuſammen .. . Vielleicht zum letzten Male... Ich habe Luſt, mir Japan anzuſehen. Haben Sie keinen Auftrag nach Yeddo, Strupp und Kompagnie?“ Daß nun doch von der Gräfin in förmlicher Weiſe Abſchied genommen werden mußte, ſetzte der tollen und für Karl unheimlichen Laune Hermann's einen gewiſſen Dämpfer auf. So ungern die ſtolze Dame ſonſt die „Freundſchaft“ ihres einzigen Sohnes zu dem bürgerlichen Manne geſehen, der noch überdies zu den „Liberalen“ und den „Wucherern“ gehörte, um ſo lieber war ſie ihr an dem heutigen Tage. Mit dem huldvollſten Lächeln trennte ſie ſich von Karl und drückte ihm beinahe zärtlich die Hand. Karl ſtarrte mit einem unbeſchreiblichen Gefühl dem davon rollenden Wagen nach; wie Einer, der treulos von den Gefährten auf der öden Klippe im Meer zurückgelaſſen, dem dahinſegelnden Schiffe nach⸗ ſchaut. Da war er mit ſeiner Gutmüthigkeit und ſei⸗ ner Schwäche in eine arge Falle gerathen. Er nahm ſich vor, wenigſtens das Aeußerſte abzuwenden und ſich nicht zum Kauf des Schloſſes überreden zu laſſen. Denn auf die üble Lage der Lindenburgs lenkte ſich mit zwingender Nothwendigkeit ſogleich das Geſpräch. Wie er ſagte, ſchüttete Hermann ſein ganzes Herz dem Freunde aus. Wollte Karl ihm glauben, ſo war das 61 Verhängniß nicht plötzlich, nicht wie ein Blitz aus heiterem Himmel, nicht durch ſeine — Hermann's — Schuld über ſie hereingebrochen. Die Mutter hatte ſchon immer über ihre Verhältniſſe hinaus, in der Pracht ihrer Kleidung, in der reichen Einrichtung ihres Hauſes, in verſchwenderiſchen Feſten ihre Launen und Ausgaben getrieben, der Sohn ſie redlich darin unterſtützt. „Aber Ihre Frau Mutter“, wandte Karl ein, „hat jene Falte, welche die rechnende Kraft des Geiſtes ausdrückt, im Geſicht.“ „Ob ſie rechnete? Beſtändig! Nur das Facit war falſch. Zuerſt wußte ſie genau, daß ihr Bruder un— ermeßliche Schätze hinterlaſſen und ihr und mir ver— erben würde, und als er ſtarb, fand ſich ein geringes Baarvermögen und dies Gut, auch nicht im geſünde— ſten Zuſtand. Mein Oheim hatte drei oder vier koſt—⸗ ſpielige Reiſen gemacht, und die Mutter bei ihrer Berechnung ſeiner Einnahmen niemals die Betriebs⸗ koſten der Wirthſchaft in Anſchlag geſetzt. Sie dachte, und ich mit ihr, daß die Spargeln und die Aprikoſen ganz umſonſt wüchſen.“ „Das war ein ſchlimmer Irrthum!“ „Daß der Alte noch lebte! Wir hätten die Hoff: nung, eine Million zu erben, und würden ſtets Narren 62 finden, die es uns glaubten und Vorſchüſſe darauf zahlten. Als die eine Erwartung fehlgeſchlagen war „Blieb noch immer die zweite“, ſagte Karl mitten in die Rede des Freundes hinein. „Ich vermuthe faſt die Abſicht Ihrer Frau Mutter, Sie konnten eine reiche Dame heirathen.“ „Richtig, und ſie brachte mir einige in Vorſchlag. Anfangs nur Adelige — ſpäter, mein lieber Herr Strupp, hätten wir auch eine Bürgerliche mit offenen Armen aufgenommen, und heute würde die Gräfin Lindenburg ſogar eine Jüdin an ihr mütterliches Herz drücken — aber die Hauptperſon in der Komödie fehlt, ich will nicht!“ „Sie wollen nicht, weil ...“ „Nun ja, weil Gabriele es mir angethan hat; Gabriele, die mich vielleicht gar nicht liebt, die mich verſchmäht, mich haßt — ich kann nicht von ihr laſſen. Dies Weib iſt ein Abgrund. Wer nicht ganz frei von Schwindel iſt, ſoll in einen ſolchen Abgrund nicht blicken, er ſtürzt ſonſt kopfüber hinein. Aber jetzt ſei es genug mit der Metaphyſik der Liebe, wir wollen uns um unſer Mittagsmahl bekümmern. Denn trotz aller Manichäer und aller Weiber, eſſen und trinken muß der Menſch.“ 63 Durch jedes Geſpräch freilich, das fie anfingen, ſo weit ab es auch von der Tagesfrage liegen mochte, klang der häßliche Refrain. Auf eine außerordentliche Höhe waren die Wechſelſchulden des Grafen geſtiegen; bei dem beſtändigen Hinausſchieben der Zahlung hatten die Gläubiger die Geduld verloren und verlangten endlich einmal „baar Geld“ zu ſehen. Dazu kam, daß Schloß und Gut Heinrichsfelde, in der erſten großen Enttäuſchung nach dem Tode des Freiherrn, von den Erben mit einer ſchweren Hypothekenlaſt überbürdet worden war. Als Kaufmann mußte ſich Karl ſagen, daß die Lage der Lindenburgs eine verwickelte und faſt verzweifelte ſei. Ueber Tiſch, beim Wein, thaute Hermann vollends auf. Das Bedürfniß nach Mit: theilung fand ſeine Befriedigung in der Gegenwart, in dem aufmerkſamen Zuhören des Freundes. Heinrich Ruhdorf hatte niemals zu ſeiner Schweſter in einem herzlicheren Verhältniſſe geſtanden; mit ſeinem Schwager, dem Grafen Lindenburg, verkehrte er, be— ſonders ſeitdem auch noch politiſche Gegenſätze ſie ge— trennt und verfeindet, nur in förmlichſter Weiſe. Jahre vergingen, ohne daß ſich die Verwandten begegneten, kaum, daß ſie je von einander hörten. Der Tod des Grafen brachte eine Aenderung zum Beſſeren hervor; die Geſchwiſter ſahen ſich, eine Ausſöhnung fand ſtatt. 64 Wenn nicht Leontine, ſo ſchien doch der ftaitliche Neffe, der ſich im däniſchen Kriege die Sporen verdient, das Herz des Oheims gewonnen zu haben. Leontine fing an, auf das Vermögen des unverheiratheten, kinder— loſen Bruders hochfliegende Luftſchlöſſer zu bauen. Oft und lange war ſie im Sommer des Jahres 1864 in Heinrichsfelde. Von herrſchſüchtigem Weſen, nicht fähig, Widerſpruch gelaſſen zu ertragen, wollte ſie Alles nach ihrem Kopfe einrichten und den Bruder bei Seite drängen. Darüber erwachten die alten Gegenſätze und Abneigungen, vom heimlichen Hader war nur noch ein Schritt zum offenen Kriege. Ohne die Dazwiſchen⸗ kunft Hermann's hätten die Geſchwiſter ſich auf immer getrennt, dieſe Charaktere waren eben nicht mit einander auszugleichen; der junge Offizier, auf den Bruder und Schweſter gleich ſtolz waren, bildete gleichſam die letzte Brücke zwiſchen ihnen. Da nahm der Freiherr, ſeiner ſchwachen Augen, überhaupt ſeiner Kränklichkeit wegen, die eine eifrige und theilnahmsvolle Pflege nöthig machte, ein junges Mädchen, Gabriele Oſten, als Vor⸗ leſerin in fein Haus. Leontine war über dieſe Eigen- mächtigkeit des Bruders in den heftigſten Zorn ge— rathen, eine Fremde in dem Schloſſe, das ſie ſich ſchon als das ihrige zu betrachten gewöhnt hatte! Eine Fremde, in der ihr Mißtrauen und ihre Habſucht 65 ſogleich eine Erbſchleicherin entdeckten! Nicht minder als dieſe Furcht empörte es ihren Stolz und verdop— pelte ihren Argwohn, daß die ganze Sache in ſolcher Heimlichkeit und Eile geſchehen, daß nie vorher auch nur mit einem Worte der Freiherr eine ähnliche Ab: ſicht ihr angedeutet habe. Der Vermittler zwiſchen dem Freiherrn und der Vorleſerin ſollte — obgleich Karl dieſe Behauptung Hermann's mit einem leiſen Schütteln des Kopfes begleitete — der alte Herr Strupp geweſen ſein. Aller Jähzorn Leontinens indeſſen ſtieß die Thatſache nicht um, er verband im Gegen: theil den Freiherrn nur um ſo inniger mit dem jungen Mädchen, als hätte ſie bei ihm vor der Heftigkeit der ſtolzen Frau Schutz geſucht. Während ſich Gabriele feſt und feſter in Heinrichsfeld ſetzte, wurden die Be⸗ ſuche Leontinens bei dem Bruder immer ſeltener. In einer eigenen Miſchung widerſtreitender Ge— fühle horchte Karl, in ſeinen Stuhl zurückgelehnt, der ſchwärmeriſchen halb ſentimentalen, halb ſich ſelbſt ver⸗ ſpottenden Schilderung zu, die Hermann von Gabrielen entwarf. Engel und Dämon, ſanftmüthig, liebreizend, einfach und zugleich undurchdringlich, unbegreiflich, zweideutig, ſo war ſie Hermann erſchienen. „Alles in Allem“, meinte Karl mit erkünſteltem Phlegma, ein intereſſanter Mädchencharakter.“ Denn Frenzel, Le bensräthſel I. 5 66 betrachtete man mit nüchterner Verſtändigkeit Hermann's Bericht, ſo ergab ſich als einzige Wahrheit dies: er hatte ſich leidenſchaftlich in das ſchöne Mädchen ver⸗ liebt, hatte im unbewußten Stolz ſeines Namens, eitel auf ſeine männliche Schönheit und ſeine Offiziers⸗ uniform, mit einer Geſellſchafterin ein leichtes Spiel, ein kurzes Abenteuer zu beſtehen gehofft und war ſtatt deſſen von ihr in gebührender Entfernung gehalten worden. In jedem Sinne war er der Beſiegte. Hatte Gabriele jemals einen ſchwachen Augenblick gehabt, glücklich und ſchnell wußte ſie wieder ihre frühere Stellung ihm gegenüber einzunehmen. Ihr Widerſtand, ihre kluge und entſchloſſene Zurückhaltung hatten Her⸗ mann immer heftiger entzündet, und zu einem unbe⸗ ſonnenen Schritt nach dem andern verleitet. Einmal — ſie war erſt vor Kurzem von einer längeren Reiſe nach Frankreich mit dem Freiherrn zurückgekehrt — hatte er im Uebermaß der Leidenſchaft, in der Kälte ihrer Entgegnung, aus Furcht ſie zu verlieren ihr ſeine Hand angeboten. Ernſt und würdig hatte ſie ihn zurückgewieſen und auf die Verſchiedenheit ihrer Stellung und ihres Standes hindeutend, ihn gebeten, ihr fortan ſeine Huldigungen und ſeine Anträge zu erſparen. Und als er ſich hoch und theuer verſchworen, daß keine Andere als ſie ſein Weib werden ſolle, 67 hatte fie ihm wie einem thörichten Knaben den Rücken gewendet .. „Aber im Ernſt, Graf Hermann“, unterbrach ihn Karl und rieb ſich vergnügt die Hände, „ein vernünf⸗ tiges, geſcheidtes Mädchen! Sie Beide paſſen nicht für einander, niemals würde Ihre Mutter, niemals ſelbſt der König dieſe Heirath zugeben!“ „Beim Parlament! Seit wann ſind Sie unter die Ariſtokraten gegangen?“ „Ich bin kein Ariſtokrat, allein der letzte Graf Lindenburg mit der Geſellſchafterin ſeines Oheims vermählt, das iſt ein Mißklang auch für mich. Mir würde es nicht einfallen, eine Bauernmagd zu heirathen. Wir leben ja nicht auf einſamen Inſeln, Jeder für ſich, in Weltverborgenheit, wir leben, wir wirken in | beſtimmten Kreiſen. Deren Geſetzen, deren Vorurtheilen müſſen wir uns fügen. Nicht Jeder kann jede Luft k U I ! 1 | 1} athmen.“ „Sie ſind ein Pedant. Was fragt die Liebe nach Aeußerlichkeiten? Sie will ſich, ſich allein zur Geltung bringen. Und da ſollten ſie die Schranken der Stände aufhalten? Altes morſches Holz! Nicht einmal das! Wir ſtellen uns Schatten vor, wo längſt kein Körper mehr iſt. Setzt ein edles Pferd nicht im Galopp über Hecken und Hürden?“ 5* * > et et . r ES * BR de u I re Me 68 „Nur bricht zuweilen der Reiter dabei den Hals. | — Aber ich habe Sie mitten in Ihrer Erzählung unterbrochen. Vergebung, ich ſchweige nun!n! Doch konnte Hermann ſeine frühere Stimmung nicht wieder finden. Der Einwand Karl's hatte ihn gerade wegen ſeiner Wahrheit getroffen. Er erzählte mürriſch und einſilbig. Auch war nicht viel des Er⸗ wähnenswerthen mehr zu ſagen. Nach jener ſtürmiſchen Unterredung hatte der Graf Gabriele Monate lang nicht geſehen; mit Aengſtlichkeit vermied er Heinrichs⸗ felde, in andern Abenteuern ſuchte er ſich das Mädchen aus dem Sinn zu ſchlagen. Es gelang ihm nicht; die Kunde von einer Erkrankung des Freiherrn trieb ihn wie ſeine Mutter nach dem Schloſſe hinaus. Mitten im Winter, es war im December 1867. So ungern ſich die Gräfin von den Wintervergnügungen der Hauptſtadt trennte, ſo war doch die Beſorgniß, durch ! die „liſtige Schlange“ um die Erbſchaft betrogen zu 1 werden, ſtärker als die Unluſt. Ruhdorf empfing die \ Gäſte mit froſtiger Höflichkeit; feine Krankheit war ar durchaus nicht gefährlich, das Gerücht hatte über: 1 trieben; rheumatiſche Schmerzen, die ihm viel unbe- hagen bereiteten, aber zu keiner ernſten Befürchtung 9 Veranlaſſung gaben. Dennoch entſchloß ſich Leontine, ihren Wohnſitz in Heinrichsfelde aufzuſchlagen und nicht f — 21 — r Ze a Me as 69 aus der Nähe des Kranken zu weichen. Die eigent- liche Pflege blieb nach wie vor der Geſellſchafterin überlaſſen; hierin war Ruhdorf unerbittlich; nur von Gabriele wollte er die Hilfeleiſtungen annehmen, die er in ſeinem Zuſtande brauchte. Er erholte ſich bald wieder, das Weihnachtsfeſt wurde im engſten Kreiſe in dem ſtillen Schloſſe gefeiert. Gegen Gabriele war die Gräfin vornehm und kühl, zu einem offenen Streite kam es nicht. So viel ſie konnten, ſagte Hermann, gingen ſich beide Frauen aus dem Wege. Mit ihm ſelbſt redete das Mädchen nur in der förmlichſten Weiſe und ſuchte vorſichtig und rückſichtsvoll jedes Alleinſein mit ihm zu verhindern. Gerade dieſe Zurückhaltung, dieſe Entfernung ärgerte, reizte, entflammte ihn noch mehr. Eines Abends fügte es das Geſchick, daß er ſie in dem Theezimmer überraſchte. Seine Mutter und der Freiherr waren in einem Geſpräch über gejchäft- liche Angelegenheiten begriffen und jo tief darin ver- ſtrickt, daß ſie ſich eingeſchloſſen hatten; ſie ſchienen Störer oder Lauſcher zu fürchten. Hermann, dem der reichlich genoſſene Wein die Phantaſie erhitzte, gab Karl jetzt eine glühende Schilderung des Vorfalls; es war ſeine letzte Unterredung mit Gabrielen geweſen. Wie alle früheren hatte auch ſie mit einer Ablehnung ſeitens des Mädchens geendet. War es ihre Schönheit, der 70 der Stolz und der Trotz noch höheren Glanz und tie fere Farben verliehen; war es nur der Zorn der ge— kränkten Eigenliebe, daß ſie ihn zurückwies; Hermann kannte ſich ſelbſt nicht; ein leidenſchaftliches Wort hatte das andere gegeben. Auf dem zum Abendeſſen gedeckten Tiſch ſtand ein ſilberner Becher, halb gefüllt mit einem leichten Schlaftrunk, den der Freiherr langſam während der Nacht zu leeren pflegte. In ſeiner Raſerei hatte Hermann den Becher ergriffen: „So wollte ich, es wäre Gift darin, daß Du mich zu Deinen Füßen ſterben ſäheſt, Herzloſe!“ gerufen und den Trank hin⸗ untergeſtürzt. — „Alles kann einem Unſinnigen zu Gift werden!“ hatte ſie erwidert und ihm den Becher ent⸗ riſſen. Eine Neige des gewürzten Weines war noch darin. „Mir wäre beſſer, ich wäre todt!“ rief ſie mit ihren düſter drohenden Augen. „Das iſt ein Nacht⸗ mahl, das uns auf ewig ſcheidet, Graf Hermann. So gewiß ich dieſe letzten Tropfen trinke, ich werde nie Ihr Weib!“ .. . Aber der Becher entfiel ihren Hän⸗ den, denn plötzlich ward die Thür ihr gegenüber auf: geriſſen und mit flammendem Geſicht trat die Gräfin Leontine ein. In ihrem lauten Geſpräch, nur auf ein⸗ ander achtend, hatten Beide die Schritte der Nahenden überhört; nur zu gut und deutlich aber hatte die Gräfin Alles vernommen . . 71 „Warum lachen Sie nicht, Strupp?“ fuhr Her: mann auf, nachdem er hier eine längere Pauſe gemacht und ein Dutzend Schwefelhölzer zerbrochen und weg— geworfen hatte, ehe es ihm glückte, die ausgegangene Cigarre wieder anzuzünden. „Warum lachen Sie nicht? Gibt es etwas Tolleres, als ich Ihnen erzählt habe?“ „Ich finde es weder toll noch lächerlich“, erwiderte Karl. „Daß Sie keine vergiftete Limonade trinken würden, nahm ich als ſelbſtverſtändlich an.“ „Sie find von einer verzweifelten Ruhe und Kalt- blütigkeit ...“ „Ich bin gar nicht ruhig; ich mache nur einen großen Unterſchied zwiſchen dem, was in der Wirklich— keit geſchieht, und dem, was in der Dichtung nach künſtleriſchen Geſetzen geſchehen muß. Wenn der Menſch in Leidenſchaft geräth, wie Sie an jenem Abend, ver⸗ miſcht er beide Gebiete; der Unbetheiligte hält ſie ge— laſſen auseinander. Und nun der Ausgang? Mein armer Freund, es war eine ſchlimme Kataſtrophe.“ „Schlimmer, unglücklicher, als Sie es denken kön⸗ nen. In der Nacht, die dieſem Abend folgte, ſtarb mein Oheim.“ „Welch' eine Häufung des Unheils und des Schreckens! Und er ſtarb plötzlich?“ 72 „An einem Herzſchlage. In einer Viertelſtunde war Alles vorüber. Gegen zehn Uhr waren wir aus: einandergegangen, im Tiefſten aufgeregt und doch äußerlich kalt und gemeſſen. Wie ich mit Gabrielen, hatte meine Mutter mit ihrem Bruder eine entſchei⸗ dende Auseinanderſetzung gehabt; ihm zitterten die Hände und die Stimme vor Aufregung, ſie hielt ſich mühſam auf ihrem Stuhl aufrecht, am liebſten hätte ſie donnern und blitzen mögen, wie ein Gewitter. Gegen ſeine Gewohnheit trank der Oheim diesmal kei⸗ nen Wein, er ſchob den Becher, den ihm Gabriele an⸗ bot, zurück: „Ich werde nicht mehr daraus trinken, liebes Kind, behalte Du ihn zum Angedenken ...“ Dem Mädchen traten die hellen Thränen in die Augen, aber ſprechen konnte ſie ſo wenig wie ich. Schweigend küßte fie ihm die Hand. Noch keine Stunde nach die- ſem Abſchied war verlaufen, als der Diener uns eiligſt nach dem Zimmer des Oheims beſchied. Gabriele ſaß ſchon an ſeinem Bett; eine furchtbare Beängſtigung quälte ihn — und dann ... nun, alle Flaſchen wer⸗ den einmal leer getrunken und ſterben müſſen wir Alle . . . Dann gab's ein Zucken, einen leiſen Schrei, und mit ihm war's vorbei!“ „Schön geſtorben — ohne Schmerzen! Laſſen Sie es gut ſein, mein Freund, ihm iſt wohl!“ Karl drückte 13 dem Grafen, den die Erinnerung doch tiefer erſchütterte, als er es hatte zeigen wollen, über den Tiſch hin die Hand. „Ja, ihm war wohl! Uns Beide aber, meine Mutter und mich, traf ein Mißgeſchick nach dem an⸗ dern. Die Mutter war in der größten Aufregung, es könnte ſich eine letztwillige Verfügung zu Gunſten Gabrielens finden, allein keine ſolche Schrift ward ent— deckt. Vor manchen Jahren hatte der Freiherr ſeinen Willen dahin ausgeſprochen, daß nach Zahlung einiger Legate an die Schule des Dorfes und an ein paar ältere Diener des Hauſes ſeine Schweſter ihn beerben ſolle. Dies trat nun in Kraft. Doch ich ſagte es Ihnen ſchon, ſtatt der gehofften Hunderttauſende ent- hielt der Schrank des Oheims nur ebenſo viele Zehn: tauſende, die nach Abzug der Legate noch beträchtlich zuſammenſchmolzen. Für die Mutter war dies eine herbe Enttäuſchung, ich hätte mich leichter darüber ge: tröſtet, wenn nicht ...“ „Wenn? Sie machen ein Geſicht, als gäb' es einen Weltuntergang!“ „Etwas Aehnliches war es auch für mich. Am Morgen nach der Nacht, in der mein Oheim geſtorben war Gabriele aus dem Schloſſe verſchwunden.“ „Verſchwunden?“ 74 „Mit einem Theil ihrer Habſeligkeiten und jenem Becher, dem letzten, dem einzigen Andenken des Frei— gert „Aber warum dieſe Flucht? Hatte die Gräfin ihr ein böſes Wort geſagt?“ „Ich würde es nicht geduldet haben“, brauſte Hermann auf. „Doch die Frauen wiſſen mit einem Blick bis auf den Tod zu kränken.“ „Und Sie haben bis auf den heutigen Tag das Fräulein nicht wieder geſehen?“ fragte Karl mit leiſe zitterndem Ton der Stimme. „Nein. In dem Gewühle der großen Stadt war ſie mir ſpurlos entſchwunden. Nach Wochen des Suchens und Forſchens erfuhr ich endlich die Familie, bei der mein Fräulein Oſten — drei andere gleichen Namens hatten mich wie Kobolde hin und her in der Irre gejagt — eine Weile ſich aufgehalten; anſtändige ſchlichte Leute, die Wittwe des früheren Predigers von Heinrichsfelde mit ihrem Sohn, einem Gymnaſiallehrer, und deſſen Frau. Es koſtete Zeit, bis ſie ihr ſehr na⸗ türliches Mißtrauen gegen mich überwunden hatten. Gabriele hatte bei ihnen eine ſchwere Krankheit über⸗ ſtanden — ſeit vierzehn Tagen war ſie nicht mehr in der Stadt. Alle meine Liſten und Mühen, hinter ihren nunmehrigen Aufenthalt, hinter ihr Reiſeziel zu kommen, 75 blieben ohne Erfolg; entweder bewahrten jene das ihnen anvertraute Geheimniß oder ſie wußten ſelbſt nicht darum.“ „Und in dieſen vielen, vielen Monaten — beinahe ſind es zwei Jahre“ — rechnete Karl heraus — „hät⸗ ten Sie der fernen, der verlorenen Schönen die Treue gehalten? Ritter Toggenburg!“ „Spotten Sie doch! Was haben die thörichten Abenteuer, auf die Sie anſpielen, mit meiner Liebe zu Gabrielen zu ſchaffen? Geſtehe ich es nur, die lange Trennung, ihre Verſchollenheit — nichts, keine Zeile von ihr, kein Laut ihres Namens drang zu mir! Das Alles hatte die leuchtenden Farben des Bildes in mei⸗ nem Gedächtniß erbleichen laſſen. Ein Zufall ſtellte es da in ſeiner ganzen früheren Glorie wieder her. Vor einigen Tagen erſchien der Leibdiener des reis herrn bei meiner Mutter; Unglücksfälle hatten den Mann in die mißlichſte Lage gebracht; gegen eine Unterſtützung, die ihm die Mutter gab, verrieth er ſeinen Herrn.“ „Verrieth? Was denn?“ „Daß Ruhdorf des Fräuleins wegen häufig mit Ihrem Vater, lieber Strupp, geredet habe; daß eine große Summe ihr verſchrieben worden ſei.“ „Daher der Beſuch der Gräfin bei mir!“ 76 „Daher, und bei mir die Ahnung, Gabriele müſſe wieder in unſerer Stadt ſein.“ „Dieſe Ahnung“ — nicht ohne Beklemmung brachte es Karl heraus — „hat Sie weiter geführt?“ „Ja, wenn die verwünſchten Manichäer mir Muße gelaſſen! Aber ich bin wie ein gehetztes Wild. Die Einen wollen ſich an den Regimentskommandeur wen⸗ den, Andere drohen mit Wechſelklagen. Hole der Böſe Ihr ſchändliches Wort Konkurs. Es iſt auch eine Er⸗ findung der parlamentariſchen Aera.“ „Aelter, lieber Graf! Es iſt eine uralte Erfindung, auch eine Folge des Sündenfalles und der Vertreibung aus dem Paradieſe.“ „Kann Einer mich, die Mutter retten, ſo ſind's Sie! Beſter, theuerſter Freund, Sie allein!“ Er hatte beide Hände Karl's ergriffen und ſchüttelte ſie heftig. „Ich, aber wie?“ 5 „O, ich komme Ihnen diesmal nicht mit Schuld⸗ ſcheinen, mit Papierſtreifen, Sie haben deren ohnedies ſchon übergenug ...“ „Sprechen wir nicht davon! ...“ „Kaufen Sie Heinrichsfelde ...“ Nun war das inhaltſchwere Wort gefallen, das während der ganzen Mahlzeit wie eine Wetterwolke über ihnen geſchwebt. Hoch auf athmete Hermann, und Karl ließ, um ſich 77 | innerlich zu ſammeln, die Wimpern über ſeine Augen ſinken. „Iſt es Ihnen nicht auch zu ſchwül in der dumpfen Stube?“ fing der Graf wieder an. „Es iſt trockenes Wetter, ſogar Sonnenſchein ... Octobernachmittags⸗ ſtimmung .. . Sit es Ihnen recht, jo machen wir einen Spaziergang durch das Dorf.“ „Ich bin bereit“, antwortete Karl. „Gehen wir nach dem Kirchhofe. Ich liebe Dorfkirchhöfe im Herbſt.“ „Ein guter Gedanke. Da kann ich dem todten Oheim an ſeinem Geburtstage meine Reverenz bezeigen. Er liegt dort mit ſeinen Ahnen begraben. Ein ſchlauer Fuchs! Er hat uns mit ſeinem Tode einen ſchönen Streich geſpielt.“ Draußen in der Dorfſtraße fielen die Blätter von den Kaſtanienbäumen. In den Gärten blühten die letzten Aſtern. Jenſeits der niedrigen Häuſer im Nord⸗ oſten zog ſich dunkel der Kiefern⸗ und Föhrenwald hin; um die Wipfel ſpielte ein blaſſes Sonnengold. Im Hintergrunde ragte der ſchiefergedeckte Kirchthurm über der alterthümlichen Kirche, an der noch Einzelheiten des romaniſchen Bauſtyls ſichtbar waren, ſtahlgrau in den graublauen Himmel. Vor den Thüren ſpielten die Kinder, ſchnatternde Gänſe watſchelten am Dorf: 78 teich. Wo einer der Bauern vor feinem Haufe ſtand oder des Weges daher kam, grüßte er die Herren. „Lohnt es ſich nicht, hier Herr zu ſein?“ nahm Hermann in einer Umſchreibung ſeinen Aufruf, der vorhin in der Gaſtſtube des Kruges unbeantwortet geblieben war, wieder auf. „Ich bin ein Bürgerlicher und liebe die Herren nicht, weder die Gutsherren, noch die Fabrikherren. Herrſchaft bringt Sorgen. Aber der Landſitz iſt ſchön, vor Allem idylliſch. Das merkwürdige Haus, der weitläufige Garten ...“ „Geſchaffen für eine Künſtlerſeele, wie die Ihrige, für Ihre Neigung zur Einſamkeit ...“ „Und zur Faulheit“, ergänzte Karl. „Nicht doch; zum Ausruhen von den Mühen des Tages, der Laſt der Geſchäfte ... Was plaudere ich? Sie können ſich das Alles ſelbſt und viel poetiſcher ſagen „Nur gilt daſſelbe ebenſo gut von Anderen wie von mir. Ich begreife, daß Sie ſchnell und aus eigener Hand zu verkaufen wünſchen ...“ „Freilich, meine Schulden ſind bekannt, wie die Liebesgeſchichten einer Primadonna; Jeder, dem ich das Gut antragen könnte, weiß um meine Noth und Verlegenheit und drückt den Preis herab.“ 79 „Und kein Känfer will ſich finden?“ „Keiner; ſie ſchützen alle vor, daß die Wirthſchaft koſtſpieliger Verbeſſerungen, das Haus einer gründlichen Erneuerung bedürfe.“ „Darin haben ſie nicht Unrecht“, murmelte Karl vor ſich hin. „Aber es handelt ſich nicht um dieſe Krämer und Wucherer; iſt es ein Freundſchaftsſtück, Heinrichsfelde zu übernehmen ...“ „Das iſt es“, konnte ſich Karl nicht enthalten zu beſtätigen. „So werden Sie ſich dieſe Gelegenheit nicht ent: gehen laſſen, mir wieder Ihre Ritterlichkeit, ach ſchon zum wie vielten Male, zu beweiſen. Und bei dem Wappen der Ruhdorfs, der Kauf wird Ihnen Glück bringen. Lieber als in meinen Händen, wird der Todte das Schloß in den Ihren, in den Händen des Sohnes ſeines beſten Freundes ſehen. Wie lange noch und Sie werden heirathen ...“ „Ich?“ Karl war wie aus den Wolken gefallen. „Verſtellen Sie ſich doch nicht, ein Fräulein Cä⸗ cilie Grunow, die fabelhaft reich ...“ „Cäcilie!“ „Aha, Sie ſind ertappt! Sie überraſchen Ihre Verlobte mit dem Geſchenke dieſes Schloſſes ...“ 80 „Thorheit, Tollheit!“ rief Karl dazwiſchen. „Ich bin nicht verlobt, ich werde niemals heirathen!“ Aber den Redeſtrom Hermann's dämmte er nicht ein. „Ich werde der Erſte ſein, der neuen ſchönen Schloßherrin meine Huldigung darzubringen. Früher war Heinrichsfelde ein Kunkellehn, ehe es Hofgut wurde. Wieder wird eine gütige Fee darüber walten. Auch mein Oheim hatte ähnliche Gedanken, wenigſtens be⸗ hauptet es meine Mutter ...“ „Seine Geſellſchafterin zu heirathen?“ „Nein, aber Gabrielen das Schloß zu vermachen.“ Gabrielen? ... ihr alſo hatte die Neigung des Freiherrn die Herrſchaft zugedacht! Unerwartet war ihm der Tod zuvorgekommen und hatte ſeine Ent⸗ würfe in ihr Gegentheil verkehrt. Die Stätte, die ihr einſt gehören ſollte, hatte das Mädchen als Flüchtige verlaſſen müſſen. So redend waren ſie zur Kirche gekommen. Hinter ihr dehnte ſich der Friedhof aus. „Gehen Sie voran, lieber Strupp“, bat Hermann. Der Pfarrer guckt aus dem Fenſter .. dort drüben, mit der langen altmodiſchen Pfeife, und der Herr nimmt's übel, wenn ich nicht bei ihm einſpreche.“ Im Stillen verwunderte ſich Karl über dieſe zarte Höflichkeit ſeines Freundes, der bei den Leuten für 81 ſtolz und hochfahrend galt, aber es war ihm wohl, in der Einſamkeit aufzuathmen, er hätte unter den epheu⸗ überſponnenen Gräbern mit den kleinen ſchwarzen Kreuzen, an denen im Winde verwelkte Kränze, ausge: blaßte Bänder ſchwankten und flatterten, auf denen weiße halbverlöſchte, unkenntlich gewordene Buchſtaben den Betrachter räthſelhaft anſtarrten — wie denn der Anblick eines Friedhofs in jedem tieferen Gemüth die Räthſelfrage der Unendlichkeit erweckt — die unruhige, drängende Rede, die heiſere Stimme des jungen Gra— fen nicht hören mögen. Ihm ſelbſt wirbelten die Ge- danken im Taumeltanz durch einander. Wozu warf ihm das Schickſal alle Dinge, an denen der Freiherr mit beſonderer Liebe gehangen, die für Gabriele ſo bedeutungsvoll, ſo erinnerungsreich waren, gleichſam zum Spiel in den Weg? Jenen Becher und nun dies Gut! Wenn er es erſtünde, den Freund rettete, und es zuletzt Gabrielen zum Geſchenk machte? — „Calcu⸗ lire“, ſagte deutlich hinter ihm ſein ehemaliger Prinzipal, Mr. Morſe, „Sie ſind ein ganzer Narr, Mr. Strupp“, ſo daß er ſich erſchreckt umſchaute. Für den Friedhof eines Dorfes war dieſer „Gar— ten Gottes“ geräumig, gut gehalten und mit einigen ſtattlichen Denkmälern geſchmückt. Einem ihrer ver⸗ ſtorbenen Pfarrer hatte die dankbare Gemeinde ein hohes Frenzel, Lebensräthſel. I. 6 82 ſteinernes Kreuz mit goldener Inſchrift aufgerichtet. Auf dem Grabe eines berühmten Architekten, der ſich aus dem Lärm der großen Stadt in das ſtille Dorf geflüchtet, ragte ein granitner Obelisk mit ſeinem mar⸗ mornen Bruſtbild empor. Halb verborgen von einer Lindengruppe lag in der Nähe dieſer Gräber das Erb⸗ begräbniß der Ruhdorfs. Ein eiſernes Gitter umſchloß es. Die Thüre deſſelben war geöffnet; neben dem einen Grabe kniete eine ſchwarz gekleidete Frauengeſtalt. Kränze und Blumen hatte ſie auf den dicht mit Epheu umwachſenen Erdhügel niedergelegt. Das Laub, das unter den Tritten des träumeriſch dahinwandelnden Mannes raſchelte, ſtörte und erſchreckte ſie aus ihrer Trauer und ihrem Gebet; auch gehörte wohl zu dieſer Stunde auf dieſem Kirchhofe ein Beſucher zu den Seltenheiten. Sie erhob den Kopf und ſah ſich nach dem Wanderer um, der nur durch das Gitter von ihr getrennt ſtillſtand. Mit einem Sprunge war ſie auf den Füßen. „Herr Strupp! ...“ „Sie hier, Fräulein Oſten!“ Ueberraſchter und erſchrockener als ſie, vergaß er an den Hut zu greifen und ſie zu begrüßen. „Warum ſollte ich nicht hier ſein, an der einzigen Stätte, die wahrhaft mein eigen iſt?“ antwortete ſie. „Von Allem, was ich einſt beſeſſen, iſt mir nichts ge: 83 blieben, als dies Grab . .. Meines einzigen Freundes und Beſchützers Grab!“ „Ich weiß, ich weiß“, ſtammelte Karl, in ſeiner Ergriffenheit keiner rechten Ueberlegung mehr fähig. „Sie wiſſen?“ fragte ſie auffahrend und ſtarrte ihn an. „Eben vor Kurzem erfuhr ich die traurigen Be— gebenheiten .. .“; er hatte nicht den Muth, ihr mit einer Lüge zu begegnen. | „Ach!“ ſchrie fie auf. „Sie kommen aus dem Schloſſe, die Lindenburgs ſind dort, Sie ſind mit ihnen befreundet .. .“ Eine tiefe Beſtürzung malte ſich auf ihrem Geſichte ab, eine hoffnungsloſe Nieder— geſchlagenheit .. „Ich kenne den Grafen Hermann, aber Ihnen bin ich befreundeter, vertrauen Sie mir!“ Er hatte ihre Hand ergriffen, und fie duldete es widerſtandslos. „Den Grafen Hermann? Er iſt in der Nähe?“ „Vor wenigen Minuten verließ er mich, er iſt zu dem Pfarrer gegangen, jeden Augenblick kann er hier⸗ her kommen, doch bleiben Sie ruhig, ſeien Sie unbe⸗ ſorgt, Gabriele, ich beſchütze Sie!“ „Nein, ich muß fort von hier ...“ „Sie eilen ihm entgegen!“ „Wenn er mich ſieht, bin ich des Todes!“ 6* 84 „Sie lieben ihn?“ „Ich haſſe ihn. O, mein Gott, ſelbſt von dieſer Stelle vertreibt er mich! Hier glaubte ich vor ihm ſicher zu ſein, hier vor Allem, am Grabe ſeines Oheims ...“ „Da öffnet ſich die Thüre des Pfarrhauſes ...“ Mit einem heftigen Ruck riß Gabriele ihre Hand aus der Karl's. „Bleiben Sie“, bat der junge Mann, „dort iſt eine Bank, die Baumſtämme verbergen Sie, es däm⸗ mert bereits, ich gehe ihm entgegen und führe ihn fort.“ „Retten Sie mich vor dem verhaßten Anblick!“ Schnellen Schrittes eilte Karl dem Ausgange des Friedhofes zu. „Schon zurück?“ rief ihm Hermann aus einiger Entfernung entgegen. „Friert Sie? Sind keine angenehme Geſellſchaft, die Todten. Haben Sie Ihre Neugierde geſtillt?“ Ihm war es erſichtlich will⸗ kommen, daß er ſich den ſauren Gang nach einem Grabe erſparen konnte. Ä Karl jchöpfte Athem. „Die Nebel wallen unter den Bäumen, und es iſt feucht.“ „Die Nebel? Wahrhaftig, Sie haben einen io eigenen Blick, lieber Freund; haben Sie Erlkönigs Töchter geſehen?“ 85 „Nein, aber ich fürchte, daß ich mir einen Schnupfen geholt habe.“ Dennoch machte Hermann keine Bewegung, ſich von der Kirche, an deren Portal fie ſtanden, zu ent⸗ fernen. Trotz ſeiner Abneigung ſchien ihn eine unſicht⸗ bare Kraft nach dem Kirchhofe zu ziehen. „Das ſollte mir leid thun“, ſagte er flüchtig auf Karl's Aeußerung hin. „Iſt doch ein ſeltſam Weſen um ſolch' einen Ort.“ „Freilich“, entgegnete Karl mit einer letzten An⸗ ſtrengung, „wunderliche Erſcheinungen ſind aus dem Boden aufgeſtiegen. Ich habe Ihren Vorſchlag von vorhin überdacht ...“ „Wegen des Verkaufs von Heinrichsfelde?“ In krampfhafter Haſt ergriff er den Arm Karl's. „Ja, ja“ — und der Bankier machte einige Schritte vorwärts. „Ich bin nicht abgeneigt ...“ „Mir das Gut abzukaufen?“ „Aber das iſt doch keine Angelegenheit, die man auf der Dorfgaſſe beſpricht.“ „Nein, nein! Ins Schloß! Sie ſind erkältet. Ein ſchwediſcher Punſch . ..“ Nun zog er ſelbſt ihn ge⸗ waltſam von der verhängnißvollen Stelle; Karl hatte gewonnen, Gabriele war gerettet. Drittes Kapitel. „Ja, vor welcher ungeheuren Gefahr denn gerettet?“ mußte er ſich fragen, als er nach einigen Stunden müde und abgeſpannt zu Hauſe ſaß. Rings umher war Alles wie es immer geweſen, licht und freundlich, gefällig und behaglich. Hier war kein Mangel, keine Unordnung; zwar keine Leidenſchaft und kein Abenteuer, aber auch keine Sorge und keine Unruhe. Zum erſten Mal mußte er ſich die Ungerechtigkeit ſeiner Klagen gegen ſein Schickſal und ſein angeblich verfehltes Leben ein⸗ geſtehen. Ihm vergönnte das Glück, hilfreich in die Geſchicke zweier Menſchen einzugreifen, die Ehre des Freundes vor einem ſchmutzigen Fleck zu bewahren, der Beſchützer und Wohlthäter eines vielverfolgten, engelsſchönen und engelsguten Mädchens zu werden. So betrachtet glänzte Alles, allein ohne Schatten war 87 es doch nicht. Weit über die Grenzen des Verſtän⸗ digen hatte ihn ſeine Gutmüthigkeit, der Drang des Augenblicks — warum wollte er ſich ſelbſt mit falſchen Bezeichnungen belügen? — eine unbedachte Leidenſchaft fortgeriſſen. Um jenem Mädchen ein peinliches Zuſam⸗ mentreffen zu erſparen, hatte er ſich zum Kauf des Gutes bereit erklärt — noch nicht in Form Rechtens, aber Hermann hatte ſein Verſprechen. Was war ihm Gabriele, daß er einen ſo theuren Preis zahlte, um fie nicht vor einem Manne, den ſie haßte, erſchrecken und erröthen zu laſſen? Welche Gefahr konnte ſie über— haupt in ſeiner Gegenwart laufen? Ihn hatte die Leidenſchaft — die Eiferſucht verblendet, ſonſt wäre wohl noch ein anderes Mittel zu finden geweſen, Her⸗ mann von dem Friedhof fern zu halten. Er aber hatte nicht gewollt, daß Beide mit einander ſprächen; dies zu hindern, war ihm gerade das äußerſte Mittel als das beſte erſchienen. Nachgedanken ſind bekanntlich noch weiſer, als die Urtheile und Sprüche des Königs Salomo, ſie haben nur den ſchlimmen Mangel, daß fie von dem Geſchehe⸗ nen kein Tüpfelchen fortzuwiſchen wiſſen, daß dies Ge- ſchehene ſich unaufhaltſam nach uns unbekannten Ge⸗ ſetzen weiter entwickelt. Mit einem Seufzer beſtätigte es Karl; welch' ein Geſicht würde morgen Herr Moriz 88 Meyer ziehen, wenn er ihm feine Tollheit mit⸗ ö theilte! Was wollte er mit Heinrichsfelde? Er konnte die Majolicaſchüſſeln aus Urbino ſeiner Sammlung einverleiben; vielleicht hatte Raphael als Lehrjunge daran gearbeitet. Oder ſollte er das Schloß Gabrielen ſchenken? Aus Freundſchaft, aus Rührung über die Treue und Dankbarkeit, die ſie dem Andenken des Freiherrn bewahrte? Sie allein hatte ſein Grab mit ihren Kränzen und Thränen an dem Tage geſchmückt, der einſt ſein Geburtstag geweſen; ſeine Erben hatten ſich nur um ihre Noth gekümmert und ſeiner vergeſſen. Gemach, gemach — wie kam er dazu, ſich an die Stelle des alten Ruhdorf zu ſetzen und den väterlichen, vor⸗ ſorgenden Freund dieſes Mädchens zu ſpielen? Er mit ſeinen ſechsundzwanzig Jahren! Ja, war er denn ſchon rettungslos in das Netz dieſer Zauberin gefallen? Ob ſie eine gute, ob ſie eine böſe Fee war; er wagte es nicht zu entſcheiden, doch ihre Nixennatur, das zau⸗ beriſche Weſen um ſie, wer wollte es leugnen? Er nicht, der jetzt mit großen, auf dem weichen Teppich unhörbaren Schritten den Saal durchmaß und un⸗ ſichere Blicke nach den ſchwarzen Ebenholzbrettern warf, auf denen unter anderen Seltenheiten der Silber⸗ becher der Madonna Lucretia prangte. Warum konnten ſich ſeine Augen nicht davon trennen und getrauten 89 ſich doch nicht, lange darauf zu verweilen, angezogen und abgeſtoßen zu gleicher Zeit. Du biſt ein Thor, ſagte er, ſich ermannend, halblaut vor ſich hin, wenn Du ſo fortträumſt, ſiehſt Du zuletzt am hellen Tage Geſpenſter; brich den Zauber mit muthigem Willen. Und als gälte es die Vollführung einer Heldenthat, nahm er den Becher von dem Geſtell, füllte ihn mit dem leichten Wein, der in einer Kryſtallflaſche auf dem Tiſche ſtand und von dem er, während er ſeine Zeitungen las, ein Glas zu trinken pflegte, hielt ihn gegen das Licht, betrachtete die Relieffiguren, die Ara: besken, das Wappen der Borgias — andere Geſtalten miſchten ſich in den Reigen derer, die der Künſtler darauf gebildet; die erſte Beſitzerin und die letzte, die phantaſtiſche, unheimliche Lucretia ... die ſanfte, thränenüberſtrömte Gabriele ... „Daß der heutige Tag mir Glück bringe!“ ſagte Karl und leerte den Becher. Hätte ihn Hermann geſehen, würde er gelacht haben: er möchte ſich einen Rauſch trinken, um die Furcht vor dem Morgen zu verbannen. Mit innerem Unbehagen ging denn auch Karl am anderen Tage in das Comptoir und ſuchte durch mancherlei Winkelzüge den Compagnon auf die uner⸗ wartete Nachricht vorzubereiten; einen Theil der Kauf⸗ ſumme wollte er dem bedrängten Freunde ſchon am 90 Mittage einhändigen, in den nächſten Tagen ſollte der Kontrakt gerichtlich aufgeſetzt und endgiltig abgeſchloſſen werden. Karl war nicht wenig erſtaunt, daß Herr Moriz Meyer ſeine halben Andeutungen verſtand und mit einem unbeſchreiblichen Ton, die Augenbraunen hochziehend, fragte: „Im Ernſt, lieber Strupp, Sie haben Heinrichsfelde gekauft?“ Verlegen ſtammelte Karl von dem einen und dem anderen Vorbehalt, er könnte wohl noch zurücktreten, wenn; „Bezahlen Sie gleich,“ rief Herr Moriz Meyer mit funkelnden Augen. „Sie ſind ein Glücksmann! Das iſt ein Geſchäft! Ich hoffe, Sie haben im Namen des Geſchäfts abgeſchloſſen?“ „Aber das Schloß?“ „Bleibt Ihnen unbenommen, auch der größere Theil des Gartens, nur das Wirthſchaftsfeld ee ich für Strupp und Compagnie ...“ „Spargelbeete und Aprikoſenzucht?“ Herr Moriz Meyer neigte ſeinen Mund zu Karl's rechtem Ohr: „Schnickſchnack! Sie haben richtig er⸗ rathen, dort baut nämlich die Oſtbahn im nächſten Jahre einen Güterbahnhof ... jo gut wie abgemacht im Handelsminiſterium ... Das nenn’ ich Scharfblick!“ — Von dieſer Eröffnung, dieſen Lobſprüchen betäubt, 91 Scham in der Seele, verlegene Röthe auf den Wangen, erwartete Karl den jungen Grafen. Wohl gezählt lagen die Tauſende, die jener zur Einlöſung der gefährlichſten Wechſel bedurfte, in einem Portefeuille auf dem Tiſche. Karl kam ſich wie einer der Wucherer vor, die den armen Freund verfolgten; unter den eingetretenen Umſtänden war das Gut vielleicht das Doppelte werth. Aber dieſe Ausſicht war eben kein „baar Geld“ und Her— mann konnte nicht warten. Unter leidenſchaftlichen Ausrufen und Betheuerungen, daß er ihm dieſen Freund: ſchaftsdienſt nie vergeſſen werde, unter Händedrücken und Umarmungen nahm der Graf die Summe in Empfang. Wie von einer Bergeslaſt fühlte er ſich befreit; nicht nur eines Theils ſeiner Schulden, auch eines Beſitzthums, das ſtatt Einnahmen abzuwerfen Koſten verurſachte, war er ledig, eine ganz neue Bahn des Lebens ſah er offen im Sonnenſcheine vor ſich liegen. Mit dem Geld in der Taſche, in der Gewiß— heit, bald über eine noch größere Summe verfügen zu können, war Hermann wieder der alte feurige, unter— nehmungsluſtige Dragoneroffizier. „Welche Gelegenheit habe ich geſtern verſäumt!“ rief er beim Abſchied dem Freunde zu, „welch' einzige Gelegenheit! Gabriele iſt hier, in der Stadt, geſtern war ſie in unſerer unmittelbaren Nähe!“ 92 „In unſerer Nähe?“ Karl verfärbte ſich. „Wir ſprachen von Kirchhofsgeſpenſtern, und da ſoll man nicht an Ahnungen glauben! Sie war auf dem Kirchhofe, entweder vor uns — heißt vor Ihnen — oder bald darauf; ein Schloßdiener hat ſie in einen Wagen ſteigen ſehen, der ſeitwärts vom Dorfe hien „Ein Diener?“ | „Natürlich erzählte der Dummkopf mir die Ge⸗ ſchichte erſt, als ich heimreiten wollte. Aber nur ein Tag iſt verpaßt, ſie iſt hier — wünſchen Sie mir Glück, Strupp, ich finde ſie wieder!“ Es traf ſich gut, daß dies der Tag war, an dem Frau Grunow gern in den Abendſtunden ihre näheren Freunde und Freundinnen in ihrem Salon begrüßte. Auch Karl konnte, ohne aufzufallen, dort erſcheinen; die freundlichſte Aufnahme war ihm verbürgt, und das umherfliegende Gerücht, das ihn ſchon mit der Tochter des Hauſes verlobte, hätte auch ſeine Abweſenheit nicht zum Verſtummen gebracht. Darum ging er, mit der Abſicht, Gabrielen zu warnen, daß ihr unvorſichtiger Schritt von Spähern belauſcht worden, daß der Graf ihrer Spur nachjage. Sonſt wollte er vor der ver- führeriſchen Schönheit, vor dem Geheimniß des ſelt⸗ ſamen Mädchens, das ſie wie ein magiſcher Schein 93 zugleich verlockend und drohend umſpann, die Hand feſt auf dem Herzen halten und verſtändigen Sinnes jede überwallende Empfindung und die vorlauten Fragen der Neugier — oder war es ſchon Liebe? — im Gleichmuth bändigen. Vortreffliche Vorſätze, die ſich während der erſten Stunde um fo leichter aus: führen ließen, da es ihm nicht gelang, zu einer ruhigen und unbeachteten Zwieſprache mit ihr zu kommen. Um ſo gefährlicher für die Gelaſſenheit ſeines Herzens wurde die Muße, die ihm vergönnt war, ſie ſtill zu betrachten und ſich ihrer Schönheit zu freuen. Der Hauch des Leidens und der Schwermuth, der ſie ver— ſchleierte, ſtimmte harmoniſch zu dem, was er von ihren Lebensgeſchicken wußte, was dichtend und aus⸗ malend die Phantaſie hinzuſetzte. In ihren Bewe⸗ gungen lag ebenſo viel äußere Anmuth, wie in ihrer tiefen melodiſchen Stimme die innere ihrer Seele rührend widerklang. In ihrem ſchwarzen Seidenkleide war ſie unter den reichgeputzten Damen die beſcheidenſte und doch eine fürſtliche Erſcheinung; das Widerſpiel ihrer blonden Haare zu ihren dunkeln Augen erhöhte noch den Reiz ihres Weſens. Verſtohlen, weil die Lippen es nicht konnten, wechſelten ihre Augen mit denen Karl's einen Blick des Verſtändniſſes, der ſein Herz lauter ſchlagen ließ. 94 Ein ſüßer Schauer wehte ihn daraus an, in einander gemiſcht Freude und Furcht vor einem noch unbe— kannten, namenloſen Glück. Ueber all' die Dinge, die in einer ſolchen Geſellſchaft verhandelt werden, war bald witzig, bald leicht, bald gedankenvoll, bald ober- flächlich hin- und hergeredet worden; am Tiſche hatte Karl neben Cäcilien ſeinen Platz gehabt, während Gabriele am anderen Ende geſeſſen; die Zeit des Aufbruchs nahte und er ſah nicht ab, wie er ihr ſeine Warnung zuflüſtern könne. Du wirſt ihr ſchreiben, ſagte er ſich in der Abſchiedsſtimmung. Aber ſie trat ihm wie zufällig in den Weg, als er ſich den Damen des Hauſes empfehlen wollte. „Ich muß Sie ſprechen, Herr Strupp,“ ſprach ſie halblaut; ſie hatte ein Notenblatt in der Hand, wie um es ihm zu zeigen. „Befehlen Sie über mich, gnädiges Fräulein.“ „Heute noch“ — Karl nickte — „in einer halben Stunde; wollen Sie mich an der Gartenthüre des Hauſes erwarten?“ „Gewiß.“ „Sie kennen den Platz?“ „Genau.“ Darüber lachte ſie, oder that ſie es nur, um die Anderen über den Inhalt des Geſpräches zu täuſchen? 95 „Es iſt eine kleine Kompoſition, die mir der Abbé Liszt aufgeſchrieben — eine Zigeunermelodie,“ und ſie rollte langſam ihr Notenblatt zuſammen. Zwiſchen zehn und elf Uhr Abends, unter kahlen Bäumen, im herbſtlichen Mondſchein ein Stelldichein; Karl hatte, was er ſich jo oft gewünſcht, ſein roman: tiſches Abenteuer! Der große Garten des Grunow'— ſchen Hauſes reichte bis zu der Allee, der gegenüber in gekrümmter Linie im Weſten und Süden der Stadt ſich der Schifffahrtskanal hinzieht. Vielfach war hier die Häuſerreihe durch Gärten, die mit Zäunen, Gittern, niedrigen Ziegelmauern geſchloſſen, unterbrochen. Ein- ſam, menſchenleer lag die Straße; zwiſchen den Aeſten der Bäume, auf dem Boden, auf dem dunklen Spiegel des Waſſers irrte hin und her der bleiche, jetzt auf— tauchende, jetzt verſchwindende Glanz des Mondlichts. Am Himmel vom Winde getrieben, wunderlich ge— thürmtes, ſilberumrandetes, blaßgraues, bläulich ſchim— merndes, tiefſchwarzes Nachtgewölk in unaufhörlicher Bewegung, im beſtändigen Wechſel der Formen und Farben. In der Stille tönten ab und zu das Rollen eines Wagens, das Geräuſch einzelner, ſeltener Wan— derer, das Gebell eines Hundes; dazwiſchen die eigen— thümlichen Stimmen der Herbſtnacht, das Knarren einer Wetterfahne, das Raſcheln des Laubes auf der 96 Erde, das Fallen der letzten Blätter, jener unbejchreib- liche Klang, der wie ein leiſe verhallender Weheruf dahin zittert. Iſt's ein unbewußtes Stöhnen der raſt⸗ los ſchaffenden und vernichtenden Natur? — Von alledem empfand Karl nur den Geſammteindruck des Träumeriſchen und Melancholiſchen; für das Einzelne hatte er weder Ohr noch Auge. Unverwandt horchte und blickte er nach der feſt in die Mauer gefügten kleinen Gartenthür hin; ſeine Seele war unruhig von Gedanken des Kommenden, von Erwartung und Sehn⸗ ſucht. In dieſer Umgebung, bei dieſer Beleuchtung, die wie für ſie geſchaffen zu ſein ſchienen, näherte ſich ihm jetzt Gabriele. Einem Schatten gleich war ſie aus der Thür gehuſcht, er hatte das Schloß nicht klingen hören. Nun gingen ſie neben einander unter den Bäumen auf und nieder. Von ihrem Geſicht war wenig zu ſehen; nur zuweilen ſtreifte es ein verlorener Mond: ſtrahl und ließ es unter dem ſchwarzen Schleier auf⸗ leuchten. „Ich danke Ihnen, Herr Strupp, daß Sie einer ſo ungewöhnlichen Einladung gefolgt ſind,“ hob ſie an; „auch würde ich meine Bitte nicht gewagt haben, wenn ich mich nicht der Freundſchaft und des Wohl- wollens erinnerte, das mir Ihr Herr Vater ſchenkte. 97 Etwas in mir tröftete mich ganz leiſe, daß ein Theil ſeiner Güte für mich auf Sie übergegangen ſei.“ „Ganz bin ich Ihrem Dienſte gewidmet, mein Fräulein, und war nahe daran, Sie um dieſe Unter⸗ redung zu bitten. Der Zufall, der uns zuſammen⸗ geführt, duldet nicht, daß ich länger ein Geheimniß vor Ihnen habe. Geſtern hatte ich eine lange Aus: einanderſetzung mit dem Grafen Hermann. Er iſt mein Freund.“ „Ihr Freund?“ 1 „Ja, mein Fräulein. Ich darf von ſeinen miß— lichen Vermögensverhältniſſen ſprechen, tauſend Zungen reden nur zu laut und zu viel von ihnen, er bot mir Heinrichsfelde zum Kauf an.“ „Ach, er hat es nie geliebt!“ „Dabei geſtand er mir, ehe ich Ihnen auf dem Friedhofe begegnete, ſeine Liebe.“ „Sagen Sie ſeinen Wahnſinn!“ „Um ſo eher,“ unterbrach er ſie ſchnell, „dürfte ich ein Recht haben, Sie zu warnen. Von einem Diener des Schloſſes ſind Sie erkannt worden, Graf Hermann wird nicht raſten, bis er Sie gefunden.“ „Er iſt mein Verderben! Warum verfolgt er und quält er mich? Was er ſeine Liebe nennt, iſt nichts als ſein Trotz und ſeine Eitelkeit, daß ich ſeinen Hul— Frenzel, Lebensräthſel. I. 7 98 digungen widerſtanden. Er, ſeine tolle Leidenſchaft iſt Schuld an Allem.“ 5 „An Allem?“ „Ja,“ betheuerte ſie. „Hätte er mich ſtill meines Dienſtes bei ſeinem Oheim warten laſſen, nichts von dem Schrecklichen wäre geſchehen. Seine Mutter haßte mich wie einen Eindringling in ihren Beſitz und in ihre Rechte, aber dieſer Haß loderte erſt zur verzeh⸗ renden Flamme empor, als ſie erfuhr, daß mir der junge Graf ſeine Hand angeboten. Daß ich ihn ab— gewieſen, ſollte nicht gelten, ſollte nur die Maske kluger Verſtellung ſein. Ich wurde für ſie zum Urbild des Böſen; nicht allein um das Erbe ihres Bruders wollte ich ſie bringen, ſondern auch ihren Sohn zu der ſchmählichſten Mißheirath verführen! Ich, die ich nicht einen Pfennig von ihren Reichthümern anrühren werde.“ So ſprechend, die kleine Hand ballend, mit ihrer ſchlanken Geſtalt, ungewiß von dem Schimmer des Mondes umzittert, hatte ſie doch einen Zug von den Rachegöttinnen geborgt. „Ich haſſe ſie beide, ſie haben mich in das Elend hinausgeſtoßen!“ Nicht düſterer und zürnender, ſagte ſich Karl, konnte Lucretia Borgia bei dem Feſtmahl ihrer Feinde erſchienen ſein, denen fie die Becher gewürzt. „Aber,“ wandte er ein, „dieſe Dinge ſind vorüber, 99 Sie haben ein großmüthiges Herz und werden verzeihen.“ „Verzeihen? O, könnte ich nur vergeſſen! Die Beſchimpfungen, die ſie mir angethan, den alten Mann, den ſie getödtet! Mit ihrem Gezänk, ihren Drohungen und Beſtürmungen haben ſie ihm das Leben verbittert und verkürzt. Wie oft hat er daran gedacht, ſeine Heimath zu verlaſſen, wie oft hab' ich ihn beſchworen, mich aus ſeinem Hauſe ziehen zu laſſen! Wenn Du von mir gehſt, bricht die Nacht herein, pflegte er dann zu ſagen — ſo blieb ich. Als er bemerkte, wie peinlich mir die Bewerbungen ſeines Neffen fielen, ſtellte er denſelben zur Rede. Der Graf erwiderte ihm, daß er mich heirathen wolle. Dieſer Gedanke entzückte den Freiherrn, er liebte mich mit abgöttiſcher Zärtlichkeit und ſah nichts als mein, ſein und Hermann's Glück in dieſer Verbindung. Fort während drang er in ſeine Schweſter, ihre Zuſtim⸗ mung dazu zu geben, Sie begreifen, daß ſeine Vor⸗ ſtellungen nur den Groll und Haß der ſtolzen Frau vermehrten.“ „Alles verſtehe ich jetzt!“ „Noch wenige Stunden vor ſeinem Tode hatte er in dieſem Sinne mit ſeiner Schweſter geredet, ſie er— widerte heftig, ſie iſt furchtbar in ihrem Zorn. Das hat ſein edles Herz gebrochen. Sein Tod war für 7* 100 mich die Mahnung zur Flucht aus einem Haufe, in dem fortan nur Demüthigungen meiner warteten.“ „Und ſo gingen Sie in die Nacht und in das Elend, in die Dienſtbarkeit hinaus?“ „Was erſchreckt Sie denn? Ich bin ein armes Mädchen und von Jugend auf dahin erzogen, mir durch Arbeit, im Dienſte Anderer mein Leben zu ge— winnen. Auch war damals mein 2003 nicht jo hart, wie Ihr Mitleid anzunehmen ſcheint. Damals lebte noch Ihr Vater.“ „Mein Vater,“ entgegnete lebhaft Karl. „Sie kann⸗ ten meinen Vater?“ Noch ſelten hatte er mit ſolcher Ver⸗ ehrung ſeines Vaters gedacht, wie in dieſem Augenblick. „Er hatte mich öfters bei dem Freiherrn geſehen und wollte mir wohl. Scharfſinnig hatte er die Noth und den Jammer, ſo wie ſie jetzt eingetroffen, vor- ausgeſchaut, aber der Freiherr war kein Mann der entſchloſſenen That, wo er zwei Schritte vorwärts that, that er raſch einen zurück. Ihr Vater verſchaffte mir ein Aſyl bei guten würdigen Leuten; eine kleine Summe hatte ich mir erſpart, ſeine Freundlichkeit mag ſie, ohne daß ich es merkte, vergrößert haben. Durch ſeine Vermittlung kam ich nach Leipzig, nach Weimar, meine Stimme auszubilden, ich will mich durch Geſangunterricht ernähren ...“ f 101 „Durch Unterricht! In Mühſal und Beſchwerde! Sie, der das Leben immer nur lächeln, immer nur Blumen ſtreuen ſollte.“ „Bisher hat das Schickſal unerbittlich das Gegen— theil von alledem gethan.“ „Ich kann, ich mag Sie mir nicht mehr in Ab— hängigkeit denken. Hat Ihnen denn der Freiherr, hat Ihnen mein Vater nie ein Wort von dem Legat geſagt, das für Sie in unſerem Hauſe liegt?“ Sie richtete ſich ſchlank und ſtolz auf: „Habe ich Ihnen nicht betheuert, Herr Strupp, daß ich nie auch nur einen Heller anrühren werde, den jene Men: ſchen als ihren Beſitz betrachten?“ „Aber eine letzte Gabe, die Ihnen ein Freund in Vorausſicht ſeines Todes ...“ Mit bitterem Lachen unterbrach ſie ihn: „Erb— ſchleicherei, Diebſtahl! Geben Sie jene Summe der Gräfin Lindenburg; Segen wird ihr das Geld nicht bringen. Ich faſſe es nicht an, lieber ſpränge ich in das Waſſer!“ „Um Ihrer ſelbſt willen, Gabriele, mäßigen Sie ſich, Sie ſind überreizt.“ Um ihr glühendes Geſicht zu kühlen, ſchlug Gab— riele den Schleier ihres Hutes zurück. „Dort unten ruht es ſich gut,“ murmelte ſie, auf die Waſſerfläche 102 zeigend, die unheimlich in dem flimmernden Mondlicht glänzte. „Aber noch iſt es nicht Zeit, es heißt weiter kämpfen. Ich erliege ſonſt nicht leicht den Erinne⸗ rungen, zu mächtig jedoch ſind ſie in den letzten Tagen auf mich eingeſtürmt. Seit ich jenen Becher in dem Juwelierladen erblickte ...“ „Ihren Becher!“ „Nun ja, meinen Becher. Das war die letzte, die einzige Gabe des ſterbenden Freiherrn, die ich annehmen durfte, von der mich, wie ich hoffte, nur der Tod ſcheiden ſollte. Und doch ...“ „Und doch haben Sie ihn verloren?“ Mit einer Bewegung, in der Verzweiflung und Scham ſich ausdrückten, ſchlug ſie die Hände über ihr Geſicht zuſammen. „Das iſt der ſchlimmſte Fluch der Armuth,“ rief ſie mit krampfhaftem Schluchzen, „für ſie gibt es nichts Heiliges, nichts Unantaſtbares, die Noth zwingt ſie, zu verkaufen, was immer nur käuflich iſt!“ „Arme, ſtolze Gabriele!“ — Er hielt ihre Hand feſt in der ſeinigen. „Verſprechen Sie mir, nicht wieder zu ſolch' Aeußerſtem zu ſchreiten. Denken Sie, ich ſei Ihr Bruder, laſſen Sie mich für Sie ſorgen. Ich weiß keine beſſere Verwendung für meinen Reich: thum, als daß er zu Ihrer Ruhe, zur Ausbildung Ihres Talents dient.“ 105 „Ich danke Ihnen, Herr Strupp,“ ſagte Sie mit einer gewiſſen Kälte, und da er verletzt ihre Hand fahren ließ, ſetzte ſie ſanfter hinzu: „Vergeben Sie meinen unfreundlichen Ton, ich wollte Ihnen nicht wehe thun, Arbeit und Armuth machen hart. Ich ſtehe gern in eigenen Schuhen und bin jetzt der Noth— durft enthoben ... Das iſt es nicht, weswegen ich Ihren Rath erbitte; Ihr Name, die flüchtige Begeg⸗ nung mit Ihnen in glücklicheren Tagen haben mir Muth gemacht ...“ „So reden Sie nur, mein Fräulein, was be— kümmert Sie?“ „Ich fürchte ein Zuſammentreffen mit der Gräfin Lindenburg oder mit ihrem Sohne. In ihrer Unver: ſöhnlichkeit wird dieſe Frau nichts ſchonen, um mich von der Stätte, wo ich Aufnahme gefunden, wieder zu vertreiben. Sie kann, ſie will mich nicht in ihrer Nähe dulden. Es iſt nicht allein die Leidenſchaft des Grafen für mich, die ſie ängſtigt; ſie ſorgt, daß ich einmal die Geheimniſſe ihrer Familie verrathen könnte. Mit Anklagen und Verleumdungen wird ſie mich bei meiner Beſchützerin, bei meiner Freundin anſchwärzen. Soll ich den Sturm erwarten oder ſoll ich Cäcilien und ihrer Mutter mein ganzes trauriges Leben eröff— nen? Sie kennen die Damen beſſer und länger, 104 rathen Sie mir! Denn wie oft hat ein ehrliches Be— kenntniß mehr Unheil angerichtet, als Lüge und Verrath!“ Karl überlegte eine Weile. „Leicht erſchreckt das Ungewöhnliche, es ruft allerlei Nachfragen und Nach⸗ forſchungen hervor, die wir beſſer vermeiden. In der großen Stadt iſt die Spur eines Einzelnen ſo ſchwer zu finden, leiten wir Ihre Verfolger nicht ſelbſt darauf. Ich möchte, daß Sie denſelben ganz frei, ganz unab— hängig, in einer Stellung gegenüber träten, zu der die Pfeile des Haſſes und der Bosheit nicht hinauf reichten.“ „Eitler Wahn! Wo wäre ein ſolcher Platz, den der Blitz verſchont, für mich?“ Mit einem ſchrägen Blick ſtreifte er ſie und ſagte, ihre Hand leiſe drückend: „Verzeihen Sie mir! Nur wenige Tage noch Geduld und Schweigen. Inzwiſchen bereite ich Frau Grunow unmerklich vor, damit die Enthüllung des Geheimniſſes, wenn ſie Ihnen wünſchens⸗ werth erſcheint, Ihre Beſchützerin nicht allzuſehr über⸗ raſcht.“ „Ich danke Ihnen, Herr Strupp, und werde Ihnen folgen. Aber das Unglück iſt mit mir! Jetzt, wo es zu ſpät iſt, bereue ich es, Sie in dieſe trau⸗ rigen Verhältniſſe hineingezogen zu haben. Ich hätte mich in dieſem Meer des Elends auf meine eigene 105 Kraft verlaſſen oder darin untergehen ſollen. Ach, daß auch dem Muthigſten Beklemmungen und Feigheit nicht erſpart bleiben!“ „So bäumt ſich Ihr Stolz ſchon gegen den Ge— danken auf, daß ich Sie einige Schritte weiter auf Ihrem Weg ſchützend geleiten könnte!“ ſagte er vor= wurfsvoll. „Uebel haben mir die Menſchen mitgeſpielt, übler noch als der Zufall“ ... Sie unterbrach ſich ſelbſt. „Haben Sie Mitleid mit mir; ich leſe es in Ihren Augen, ich höre es aus Ihrer Stimme, daß Sie mir wohl wollen, daß ich Ihnen vertrauen darf. Meine Worte ſind rauher als mein Herz. Gute Nacht!“ Hinter einem dichten Wolkenflor war der Mond verſunken; nur ſchwach war an einem bleichen Silber— ſchimmer die Stelle kenntlich, wo er am Himmel ſtand — hinter der Gartenthüre war Gabriele entſchwunden, nicht einmal ihren leichten Schritt vernahm der draußen noch Harrende mehr. Wie ein Traumzerflatterte das Ganze. Aber in Karl's Herzen blieb gleichſam der Niederſchlag dieſes Traumes als ein unbeſchreibliches Gefühl zurück — unbeſchreiblich, denn ſo wohl und ſo weh war ihm niemals geweſen. Einem Schlafwandler gleich ging er noch viele Male unter den Bäumen hin und her; erwartete er das Mädchen wieder aus der Thüre treten 106 zu ſehen? — Er war von dem Gegentheil überzeugt, aber es bereitete ihm eine eigene Freude, die Schritte, die er mit ihr zuſammen gemacht, noch einmal zu thun. Dabei ward die Nacht kälter und der Wind ſauſte unheimlicher. Als der Froſt und das Unbe— hagen endlich über ſeine erhobene Stimmung ſiegten und ihn nach Hauſe trieben, war ſein Geſchick ent⸗ ſchieden: er liebte Gabriele! Ohne Eltern, deren Wille und Mahnung auf ihn ihren berechtigten Einfluß hätten üben können, ſein freier Herr, nicht nur ein reicher, ſondern auch in ſeinem Denken und Empfinden ein unabhängiger Mann, warum ſollte er das Mädchen, das er liebte, nicht heirathen? Die klugen Leute mochten den Kopf da⸗ rüber ſchütteln, daß Karl Strupp eine arme Geſangs⸗ lehrerin, eine Geſellſchafterin ſich zur Gattin erwählte; da er immer für einen ſeltſamen Kauz gegolten, lag ihm die Meinung der Welt nicht ſehr am Herzen. Zu den vielen Streichen ſeines Humors war dies einer mehr. Ach! ſeufzte er, und er wird ſicherlich nicht der letzte ſein. Warum zögerte er, ihr ſeinen Antrag zu machen? Unſtät wanderte er ſo in mancherlei Gedanken am nächſten Morgen in ſeinen Zimmern hin und her. Zuweilen griff er nach ſeiner Geige und ſpielte ein 107 paar Takte darauf. Dann nahm er den Becher Lucre⸗ tia's in die Hand und betrachtete ihn. Von ſeinem vergoldeten Boden leuchtete ihm Gabrielens Antlitz entgegen. Um das nackte Leben zu friſten, hatte ſie ihn verkaufen müſſen, zu ſtolz, ein Geſchenk anzurühren, deſſen Größe in den Augen Hermann's und ſeiner Mutter ein Vorwurf für ſie war. Mitleid und Be⸗ wunderung für ſie ergriffen ihn. Wenn er ihr den Becher ſandte, als ihr Eigenthum und zugleich als erſte Gabe ſeiner Freundſchaft, ſeiner Liebe? Freund⸗ ſchaft — wie hatte er nur vergeſſen können, daß er auch Hermann ſeinen Freund nannte? Er hatte Jenen ſein Geheimniß ausplaudern laſſen, aber ſtatt Auf⸗ richtigkeit mit Aufrichtigkeit zu vergelten, verſchwiegen, was er ſelber wußte. Wenn er jetzt Gabrielen ſeine Liebe geſtand und um Erwiderung bat, betrog er nicht den Freund? Konnte es für einen Ehrenmann eine andere Löſung aus dieſer Verwickelung geben, als dem Grafen zu erklären: „Ich kenne jene Gabriele, von der Sie zu mir geſprochen, ich liebe fiel”... Gewiß, dies war das Gebot der Pflicht, der Wahr⸗ heit, und es erſchien ſo einfach, ſo klar, hätte nur ſeine Erfüllung nicht unmittelbar Gabriele in Mit⸗ leidenſchaft gezogen und dem Grafen den Zugang zu ihr geöffnet. So hin- und hergeriſſen, entſchied ſich 108 Karl für das Abwarten, unbewußt gehorchte er der Trägheit und Unentſchloſſenheit feines Weſens. Er hatte dieſen Knoten nicht geſchlungen, vielleicht that der Zufall ein Uebriges, ihn zu entwirren. Männlich wollte er ſeine Neigung in ſich verſchließen und ſich der Vortheile ſeiner Stellung begeben, nicht in heim⸗ licher und unehrenhafter Weiſe einen Vortheil über ſeinen Nebenbuhler zu erringen ſuchen. Die Klugheit und die Sitte der Geſellſchaft hießen ihn für die nächſten Tage das Haus der Frau Grunow meiden. Aber daran konnten ſie ihn nicht hindern, wiederholt daran vorüber zu gehen und zu fahren, in der Hoffnung, die er ſelbſt eine Thorheit ſchalt, die Geliebte oder doch wenigſtens ihren Schatten am Fenſter zu erblicken, und ſeinen Unſtern anzuklagen, wenn ſein Bemühen vergeblich geweſen. Nur war er nicht der Einzige, der dies Haus umkreiſte, und der Andere hatte mehr Kühnheit und Soldatenliſt. Bei einem Ritt durch den großen Garten vor dem Thore war Graf Hermann einem Wagen mit zwei Damen begegnet. Raſch hatte die eine den Kopf zur Seite gewandt, allein wie wäre dies Antlitz vor ihm zu verbergen geweſen? Er hatte Gabriele erkannt und war dem Wagen hartnäckig in einer wei⸗ teren Entfernung, um den Damen nicht beſchwerlich 109 zu fallen, gefolgt. Seitdem beobachtete er das Haus, des Augenblicks gewärtig, der ihm den Zutritt geſtatten würde; Wuth und Zorn gegen den Freund in der Bruſt, der ihm den Aufenthalt des Mädchens ſo heim— tückiſch verſchwiegen. An dieſem Abend meldete der Diener dem Fräu— lein einen Fremden, der ſie dringend zu ſprechen wünſche. „Sein Name?“ wollte ſie fragen, als die Thüre ſchon von dem Ungeduldigen aufgeriſſen wurde. Ein Wink gebot dem über ſolche Kühnheit erſtaunten und erſchreckten Diener, ſich zu entfernen; Hermann und Gabriele ſtanden ſich gegenüber. Mit raſcher Geiſtesgegenwart hatte er die Gelegenheit, wo er ſie allein im Hauſe wußte, ergriffen. Ermuthigend war der Blick und die Haltung, in der ſie ihn empfing, nicht; betreten wagte er nicht, ihr näher zu treten. Hochaufgerichtet, die linke zuſammengeballte Hand auf der Platte des Tiſches, ſtand ſie da, die Rechte wie zur Abwehr gegen ihn erhoben. Von einer Ampel erhielt das Gemach ein mildes gleichmäßiges Licht. Ga⸗ briele trug ein einfaches, glatt niedergehendes Kleid von weißem Wollenſtoff; ihr bleiches ſtarres Geſicht, dies Gewand, ihre faſt regungsloſe Haltung gaben ihr etwas von einem Marmorbilde. 110 „Gabriele!“ fing der junge Graf leidenſchaftlich die Hand nach ihr ausſtreckend an. „Darf ich bitten?“ Sie zeigte kühl und ſtreng auf einen Seſſel, der neben dem Tiſch ſtand. Aber ſie ſelbſt rührte ſich nicht von der Stelle. „So ſehen wir uns wieder,“ brach er aus. „Nach anderthalb Jahren! Nachdem Sie mich durch Ihre Flucht in Verzweiflung geſtürzt, nachdem ich dieſe Minute mit tauſend Wünſchen und Gebeten herbei⸗ geſehnt. Nicht dieſen Blick, nicht dieſe Kälte! Reden Sie, gießen Sie Ihren Zorn über mich aus; drohen, ſtrafen, verwünſchen Sie mich ...“ Um ihren Mund zuckte es, doch erwiderte fie mit einer gewiſſen Gelaſſenheit, wie auch ihre Stimme beben mochte: „Herr Graf, Sie täuſchen ſich in dem Orte. Es iſt nicht mehr Ihr Schloß, in dem Sie dieſe Worte an mich richten, es iſt ein fremdes Haus. Nichts zwingt mich hier, Sie anzuhören. Was führt Sie her, was haben Sie mir zu ſagen?“ „Wenn der Ton meiner Stimme, ſtatt zu Ihrem Herzen zu dringen, Sie verletzt, iſt mein Geſchäft aus, noch ehe es begonnen. Ich glaubte, daß Sie nach ſo langer Trennung einen Freund mit andern Augen wiederſehen würden.“ „Ich habe die Freundſchaft des Grafen Lindenburg 111 nie erfahren und nie erfahren mögen. Sie wollen wieder aufbrauſen und mir von Ihrer Liebe erzählen ...“ „Ja, von meiner Liebe!“ fiel er ihr heftig in's Wort. „Verdient meine Treue, meine Huldigung, meine Leidenſchaft die Behandlung, die Sie mir zu Theil werden laſſen? Bin ich ein Schelm, ein Wicht, den man mit dem Fuße von ſich ſtößt?“ „Was fällt es Ihnen ein, ſich mir nachzudrängen, auf Schritt und Tritt? Ich werde Sie niemals lieben.“ „Warum, weil ich ein Graf und Sie ein armes Mädchen find? Was kümmert ſich mein Herz darum? Ob Sie ſchuldig, ob Sie unſchuldig ſind — Ihre Augen haben dies verzehrende Feuer in mir entzündet und Sie müſſen es löſchen.“ „Laſſen Sie mich eins Ihnen ſagen, Herr Graf. Von Anfang an haben Sie geglaubt, in mir eine Sklavin zu ſehen; eine Dienerin, die ſich durch die Liebkoſungen des gnädigen Herrn geehrt fühlen müßte. Die Liebe, von der Sie mir vorſchwärmen, iſt nichts als Zorn und Haß über meinen Widerſtand. Sie wollen mich beſitzen, ſelbſt um den Preis Ihres Namens, weil es Ihrer Eigenliebe unerträglich ſcheint, daß Ihnen ein Weib trotzt. Ich aber, ich erniedrige mich nicht zu dem Spielwerk Ihrer Laune, ich bin mir ſelbſt viel zu theuer, als mich ſo wegzuwerfen!“ * 112 Auch in ihr war der Zorn emporgelodert und drohend ſtand ſie ihm gegenüber. „Gabriele, bedenken Sie wohl, Sie haben es mit einem Raſenden zu thun. Reizen Sie mich nicht, jagen Sie mir ein gutes Wort ...“ „Ich weiß keins. Aus Ruhe und Glück haben Sie mich aufgeſtört und mich dem Zufall und der Noth preisgegeben. Wie ein böſer Geiſt erſcheinen Sie jetzt wieder vor mir, als gönnten Sie mir keine Raſt und keinen Frieden. Daß ich ein Mann wäre, anders als mit Worten würde ich mich vertheidigen! So bin ich nur ein Weib und kann Sie nur noch einmal bitten: verlaſſen Sie mich!“ „Und ich mag mich nicht von Ihnen wegſchicken laſſen, wie ein ausgeſcholtener Schulknabe. Ich will Ihren Trotz niederzwingen ...“ Alles an ihm funkelte und bebte. Er ſchien be- ſinnungslos zu einer Gewaltthat fortgeriſſen zu werden. „Nun, ſo muß ich denn bei einem Andern, bei einem beſſern Manne Schutz vor Ihnen ſuchen.“ „Schlange! Bei Karl? Oho, wähnſt Du, ihr könntet mich Beide ungeſtraft betrügen?“ „Betrügen! Ein Mann, der Sie rettet?“ ſagte ſie mit einem Ton hochfahrenden Mitleids, der ihn des letzten Reſtes ruhiger Ueberlegung beraubte. PETER, Sl — ve. N 113 „Dieſer Wucherer — ich ſchieße ihn nieder wie einen tollen Hund!“ Es flimmerte ihm vor den Augen und einem Beſeſſenen gleich hob er die Fauſt gegen ſie — ſah er den Nebenbuhler vor ſich und rüſtete er ſich, ihn mit einem Schlage niederzuſtrecken? „Ein Mann erhebt den Arm gegen ein Mädchen — das iſt unedel!“ rief hinter ihm eine helle Stimme und er fühlte etwas wie einen leiſen Schlag auf ſeine Schulter Es war eine kaum merkbare Berührung mit dem Griff eines Schirmes; wüthend wandte er ſich um. „Verzeihen Sie, mein Herr, daß ich Sie berührt habe,“ ſagte mit blitzenden Augen Cäcilie, ſich auf ihren Zehen erhebend, um größer zu erſcheinen. „Ich that es Ihretwegen, um Ihnen ein Erröthen zu er⸗ ſparen.“ Und die Freundin umfaſſend, als müſſe ſie ihr zum Schilde dienen, zog ſie Gabriele mit ſich fort. Einen tiefen Athemzug holte Hermann, ſchlug ſich mit der geballten Fauſt vor die Stirne und ſank in einen Seſſel. Er hatte dieſelbe Empfindung wie da= mals, als ihn bei Königgrätz im wildeſten Handge— menge der Säbelhieb des Gegners getroffen und er von dem ſich bäumenden, durch eine Flintenkugel ver— wundeten Pferde niederſtürzte. Und dennoch hätte er viel lieber unter Sterbenden und Todten gelegen, Frenzel, Lebensräthſel I. 8 114 während der Reiterſturm weiter über ihn fortfaufte, als hier in dem ſtillen Zimmer, auf dem weichen Polſter. Nichts regte ſich, ſanft und ruhig leuchtete das Licht der Ampel, um ſo ungeſtümer pochte ſein Herz, um ſo beſchämender waren die Gedanken, die auf ihn einſtürmten. Wie ein Unſinniger, wie ein berauſchter Wüſtling hatte er ſich betragen! Er, der Graf Lindenburg, der bisher trotz ſeiner Schulden und Streiche immer für ein Vorbild aller Ritterlichkeit ge⸗ golten! Was mußten die Mädchen von ihm denken, vor Allem die Kleine! — Er faßte nach der Schulter, dort, wo ihr Schirm ihn berührt; es ſchmerzte ihn, als hätte der leiſe Stoß ihm eine ſchwere Wunde ver— urſacht. Ohne Zweifel hatte ſie ſchon eine Weile in der Thüre geſtanden und ſein Toben mit angehört. Wenn wir ſelbſt am ſtärkſten unſere Schuld fühlen, ſuchen wir am eifrigſten einen Gegenſtand, auf den wir die größere Hälfte des begangenen Fehlers ſchieben. Nicht ſein zuchtloſes Eindringen in ein Zimmer, das ihm hätte doppelt heilig ſein ſollen, nicht ſeine Heftig⸗ keit, der herausfordernde Trotz Gabrielens hatte Alles verſchuldet. So gereizt hatte er ſich vergeſſen, hatte er ſich eine gerechte Demüthigung zugezogen. Wie er ſie jetzt haßte, dieſe ſtolze Bettlerin! Keines Blickes würde er ſie mehr würdigen. Mochte ſie doch hinfahren 115 in Elend und Verderben, er hatte ihr zum letzten Male ſeine Hand geboten, ſie aus Niedrigkeit und Dienſtbarkeit emporzuheben. Ein Thor war er dieſe ganze Zeit über geweſen; einer Sirene war er nach— geeilt, die über ihn ſpottete, die kein warmes Blut in den Adern hatte; er ſchüttelte ſich; Scham, Reue, In— grimm kämpften vereint die Liebe nieder ... Er ſprang auf — aber konnte er ſich ſo, ohne wenigſtens den Verſuch einer Entſchuldigung bei der Herrin des Hauſes zu machen, entfernen? Im Neben: gemach war Niemand, zu rufen, den Klingelzug zu ziehen wagte er nicht. Die nächſte Thüre führte ihn auf den Korridor. Hier ſtand der Diener, der ihn bei Gabrielen angemeldet; ſicher hatte er von dem kleinen herriſchen Mädchen den Auftrag erhalten, des fremden Herrn zu warten und ihn hinaus zu geleiten. „Ich muß Fräulein Cäcilie Grunow ſprechen,“ ſagte er hart und trotzig auf ihn zutretend und glättete mit einem Goldſtück die bedenklich krauſe Miene des Dieners. „Ich gehe nicht von der Stelle, bis ſie mir dieſe Gunſt gewährt hat.“ Wäre er in der Stimmung eines Gleichgiltigen geweſen, er hätte über ſich ſelbſt lachen müſſen, daß er nun nach längerem Warten denſelben Weg wieder zurückging, denſelben Salon betrat. Mit großer Selbſt⸗ g* 116 beherrſchung und ohne Zwang erwiderte das kleine Mädchen ſeinen Gruß. Als er nach einer tiefen Ver⸗ neigung aufſah, fand er freilich, daß ſie weder klein noch häßlich ſei. Wenn Reichthum, Bildung und eine natürliche Anmuth ſich vereinigen, ſo verleihen ſie auch einem Alltagsgeſicht einen Schimmer der Schön⸗ heit und geben einem kleinen, jungen Mädchen eine große Gewalt über einen ſtattlichen Dragoneroffizier. Was Hermann ſtotterte, wußte er nicht — aber das Fräulein ihm gegenüber ſchien anzunehmen, daß es eine genügende Entſchuldigung ſei. „Ich werde Ihre Erklärung, Herr Graf, meiner Freundin überbringen,“ ſagte ſie, „und wir Beide wollen uns bemühen, jenen peinlichen Auftritt zu vergeſſen.“ „Nur zu vergeſſen?“ erwiderte er gepreßt, „nicht auch zu verzeihen?“ „Ich kann für meine Freundin nicht gut ſagen; ſie iſt ſchwer gekränkt.“ „Aber Sie vergeben mir?“ bat er. „Es iſt zu beſchämend für mich, aus Ihrem Hauſe ohne dieſe Verſicherung zu gehen.“ „Ich hoffe, Herr Graf, daß Sie meine Vergebung dadurch verdienen, daß Sie die Ruhe meiner Freundin fortan nicht mehr ſtören.“ Hermann empfand plötzlich eine eigenthümliche 117 Luft, das Geſpräch fortzuſetzen; allein die „Kleine“ hatte bei den letzten Worten ſich mit einem Geſicht und einer Bewegung ein wenig erhoben, die unzweideutig ihren Entſchluß ausdrückten, die Unterhaltung zu be— endigen. Der Graf war in einem ſolchen Wirbel, daß er ihr wie einer Fürſtin zwei Verbeugungen machte, ehe er die Thüre gewann. Das waren zwei Nieder— lagen auf einmal, murrte es in ihm, als er auf der Straße war, und die zweite that ihm in dieſem Augen blick noch weher, als die erſte. Die Damen der ari— ſtokratiſchen Geſellſchaft waren über ſeine „geiſtreiche“ Unterhaltung und ſein Erzählertalent ſtets entzückt ge⸗ weſen — und hier wies ihm ein Bürgermädchen, eine Kaufmannstochter, kurzweg die Thüre. Revanche für Sadowa, rief er, als ob er ein Franzoſe geweſen. Er brauchte nicht lange auf einen Gegenſtand für ſeine Rache zu forſchen. Dieſer Strupp — er kannte Ga- brielens Aufenthalt ... Dieſe Heuchlerin! Sie hatte ein Liebesverhältniß mit ihm. Morgen wollte er den Kauf von Heinrichsfelde rückgängig machen; das war Sache des Notars; morgen den treuloſen Freund fordern, niederſchießen; das war ſeine eigene Sache. Am liebſten hätte er ſchon heute das Piſtolenduell zu Ende gebracht, in der nahe gelegenen Haide, es war 118 heller Vollmondſchein — mit den Waffen wußte er immer beſſer umzugehen, als mit dem Gelde. Zu derſelben Stunde, wo Hermann in den Straßen in ſolch' kampfwüthiger Stimmung auf- und nieder⸗ lief, ohne Zweck und ohne Ziel, nur um ſein wildes Blut zu beruhigen, wurde Karl in ſeinem elegiſchen Geigenſpiel durch die Ankunft Gabrielens in ſeiner Wohnung unterbrochen. Beinahe wäre ihm die koſt⸗ bare Violine — ein Meiſterſtück der alten Geigen⸗ bauer von Cremona — aus den Händen gefallen, als er die feine Geſtalt des Mädchens in der Thüre der Bibliothek erſcheinen ſah. War es nur ſeine Phan⸗ taſie, die ihm das Bild der Geliebten vorzauberte, oder war es die holde Wirklichkeit? Sie hatte ſich von dem Diener nach der Bibliothek führen laſſen und, da er das Spiel des Herrn zu ſtören zögerte, hatte ſie un— geduldig die Thüre ſelbſt geöffnet. Aber es war das letzte Aufflammen ihrer Willenskraft, die Kniee wank⸗ ten unter ihr und ſie drohte zuſammenzubrechen. Der Anblick ihrer Muthloſigkeit, der Schwäche, der ſie ohne ſeine raſche Hilfe vielleicht erlag, riß ihn aus dem Bann der Befangenheit; er eilte hinzu, ihr einen Seſſel zuzuſchieben. Schwer, als wäre ſie von Erz geweſen, ſank fie hinein, die Hand auf ihr Herz ges preßt. Eine Weile ſtand Karl vor ihr, ohne ſich zu 119 regen; ebenſo ſehr fürchtete er ſich, durch eine Frage ihre Aufregung zu vergrößern, als zu hören, was geſchehen, Mit einem Ruck fuhr Gabriele in die Höhe und ſchlug die Hände über das Geſicht zuſammen. „O, ich Unglückſelige, was habe ich gethan!“ Aus dem unſteten Blick, mit dem ſie umherge— ſchaut, ſchloß er, daß ſie darüber erſchräke, ſich in dem Zimmer eines Fremden zu befinden. „Sie ſind bei Ihrem treueſten Freunde,“ tröſtete er, „hier wird Ihnen kein Unheil, kein Verfolger nachdringen.“ „Ich bringe das Unglück mit mir,“ antwortete ſie bitter, „wie ich es Ihnen neulich verkündigt, ich trage eine Botſchaft vom Grafen Lindenburg an Sie.“ „Von Hermann, an mich? Sie haben ihn getroffen?“ „Er will Sie tödten. Sie und mich!“ Trotz der Erſchütterung, in der ſie war, konnte ſich Karl nicht enthalten, in ſeinem trockenen humo— riſtiſchen Tone zu entgegnen: „Unbeſorgt, das wird er bleiben laſſen, damit ſchöſſe er ſich ſelbſt todt!“ „Aber er iſt im Zuſtand eines Wahnſinnigen und jeder tollſten That fähig,“ erwiderte ſie in fliegender Haſt. „Mich trieb eine namenloſe Angſt zu Ihnen, dem Wüthenden hier — hier zuvorzukommen ...“ „Gute, theure Gabriele!“ So groß war ihre 120 Beſtürzung oder ihre Theilnahmloſigkeit, daß ſie feine Küſſe auf ihre Hand duldete. Allmählig fand ſie dann Beſonnenheit und Klar⸗ heit wieder, um dem Freunde das Greigniß zu erzäh⸗ len. Mit Thränen, die ſie nur mühſam erſtickte, klagte ſie ſich wegen ihrer Heftigkeit an; eher würde ihre Ge— laſſenheit Hermann gebändigt haben, aber zu ſchwer habe er ſie gekränkt. Als die Freundin ſie nach ihrem Gemach geführt, habe ſie zu ſpät ihren Fehler erkannt. Ihre Einbildungskraft habe ihr das Aeußerſte und Entſetzlichſte vorgeſpiegelt, einen blutigen Kampf beider Männer; ſie habe den Mantel umgeworfen und alle Rückſichten beiſeite geſetzt, um ihn vor dem Angriff des Grafen zu warnen. Seinerſeits erſchöpfte ſich Karl in Dacia, bereitwillig ging er auf ihre Anſchauungen ein und ſuchte nur leiſe hier und dort eine mildere Anſicht geltend zu machen, um ſie unmerklich friedlicher zu ſtimmen. Einmal hätte es ja doch zu einer Ausſprache zwiſchen ihm und dem Grafen kommen müſſen, nun habe der Zufall die Schwierigkeit gelöſt und das erſte Wort geſprochen, je früher um ſo beſſer. Ueber die Folgen ſolle ſie nicht ſorgen, der Graf werde ſich be— ſänftigen, Zeit gewonnen ſei bei Hermann's lebhaftem, aufflackerndem Weſen Alles gewonnen. Unvermeidlich 121 ſcheine es ihm dagegen, Cäciliens Mutter in ihr Ge— heimniß einzuweihen; die kluge Frau werde den Vor— fall, der kaum verſchwiegen werden könne, zart und verſtändig auszugleichen wiſſen. Ungläubig und traurig ſchüttelte Gabriele den Kopf. Nein, Schuld wird ſich an Schuld reihen, ich ziehe Blitz und Donner mir nach. Gäbe es nur einen Ort, wo ich mich auf immer verbergen könnte! Was gewährt mir die Welt? Ich bin eine Waiſe, ich zählte noch nicht zwei Jahre, als ich meine Mutter verlor. Gute, barmherzige Leute haben mich auferzogen, ich erſetzte ihnen ein früh verſtorbenes Kind. Was ſie beſaßen, verwandten ſie auf meine Erziehung. Mein Pflegevater war ein Dorfſchullehrer in beſſeren Um⸗ ſtänden, die Frau hatte ihm ein mäßiges Vermögen zugebracht. Da hab' ich die glücklichſten, die heiterſten Jahre meines Lebens auf dem Lande, im Walde und auf der Wieſe vertummelt und verträumt. Herange⸗ wachſen, ward ich in eine Penſion geſchickt, ich lernte, ich arbeitete; das Geſpenſt der Zukunft fing an mich zu ängſtigen. Die Nothwendigkeit, Alles dem eigenen Fleiß, der eigenen Thätigkeit verdanken zu müſſen, ſtärkt wohl die Seele, aber raubt ihr den Schmelz. Denn was nützt der Fleiß, das mühſeligſte Ringen, wenn ihnen die Gunſt des Zufalls fehlt? Und über 122 mir und meinem Leben liegt ein Schatten, die Ahnung, die mich nie verläßt, daß ich zum Unglück geboren bin. Ich bildete mich zur Lehrerin aus, meine Pflege-Eltern ſtarben raſch hintereinander und hinterließen nichts. Vermuthlich hatten die Koſten meiner Erziehung ihr Kapital aufgezehrt. Mit ſiebenzehn Jahren ſtand ich allein. Die weite Welt! Ach, Sie glauben mir wohl, daß ſie mir als der freudloſeſte, unwirthlichſte Ocean, als eine unermeßliche, gähnende Tiefe voll unbekannter Schreckniſſe erſchien. Da mir Alle fremd waren und ich keine Heimath mehr hatte, fiel es mir weniger hart und peinlich, bald in dieſem, bald in jenem Hauſe als Gouvernante zu dienen. Wie ein Schatten glitt ich durch alle hin, meines Bleibens war nirgends. Viel Wechſel und doch beſtändig dieſelbe graue Ein— tönigkeit, dieſelbe Mühſal, dieſelben Anfechtungen und die Erkenntniß von der vollkommenen Nutzloſigkeit aller Anſtrengungen. So find mir mehrere Jahre vergans gen, bis ich einer Einladung des Freiherrn in ſein Haus folgte. Dort lächelte mir eine kurze Friſt fröh— licher Sonnenſchein, die heiteren Tage meiner Kindheit ſchienen zurückgekehrt zu ſein — Sie wiſſen es ja, wie kurz der Traum war!“ Schweigend ſaßen ſie ſich gegenüber, ihn hatte ihre Erzählung noch weicher und ſentimentaler geſtimmt. 123 Welch' andere blühende Jugend hatte er genoſſen und er wagte noch jetzt von einem verfehlten Leben zu ſprechen! Durfte er ſeine phantaſtiſchen Leiden mit den bitteren Entbehrungen und Qualen vergleichen, durch die ſich Gabriele gekämpft? Zu ſeiner Neigung für ſie geſellte ſich ein Gefühl der Bewunderung für ihren Muth und ihren Stolz. „Ein hartes Loos!“ ſagte er. „Aber wie haben Sie es ertragen, Sie ſind eine Heldin! Nur geſtehen Sie es, daß Sie Welt und Menſchen mit furchtſamen Augen betrachten. Sie weigern ſich, eine Gutthat an— zunehmen, weil Sie fürchten, dadurch gebunden zu werden. Wiſſen Sie, woran Sie mich erinnern? An die Schwanenjungfrau im Märchen, die eilig dahin— flieht, in ewiger Sorge, ihr Schleier möchte an den Zweigen der Bäume, an den Hecken des Wegs hängen bleiben und ſie dadurch in die Gefangenſchaft der Sterblichen gerathen. So kann, ſo darf es nicht fort- gehen. Sie müſſen ſich entſchließen, das Legat des Freiherrn oder die Hilfe Ihrer Freunde anzunehmen, damit Sie Ihrer Kunſt und des Lebens froh werden. Von der Welt der Erſcheinungen Idealität zu ver: langen, ach! Gabriele, es iſt eine Thorheit; Sie haben es in der Noth und in der Arbeit, ich hab's im Reichthum und Müßiggang erfahren. Das Ideal in 124 unſerer Bruſt zu bewahren, damit müſſen wir uns begnügen. Wenn Sie frei und unabhängig daſtehen, wird auch Graf Hermann ſeine Verwegenheit mäßigen.“ „Sie mögen Recht haben, ich bin ihm noch immer die Vorleſerin ſeines Oheims.“ „Getroſt, ich hoffe, er hat Sie heute zum letzten Male gequält. Ich ſende Ihnen morgen Ihr Eigen: thum, vielleicht enthält das Packet ein letztes Wort, eine letzte Mahnung des Freiherrn an Sie und klärt ſeine Freigebigkeit, die Ihnen jetzt ſo bedenklich erſcheint, natürlich auf.“ „Ich will nichts von ſeinem Gute.“ „Sie ſind nachher die freie Herrin Ihres Willens und können mit jener Summe nach Belieben verfahren, aber der Wunſch eines alten Freundes verdient doch Berückſichtigung ...“ „Ich thue etwas, was mich reuen wird,“ ſagte ſie, durch ſein Drängen unſchlüſſig geworden. „Auf morgen denn! Und ſie geben mir die Verſicherung, daß Sie jedem Streit mit dem Grafen ausweichen werden?“ Indem erhob ſich in einem der vorderen Zimmer ein Wortwechſel, der von Minute zu Minute heftiger anſchwoll. Angſtvoll hatte ſich Gabriele von ihrem Seſſel erhoben. Beide vernahmen die laute und barſche 125 Stimme des Grafen: „Sie jind ein Narr,“ ſchrie er, „ich laſſe mich nicht abweiſen. Herr Strupp iſt zu dieſer Stunde immer in ſeiner Wohnung... Aus dem n „Barmherzigkeit!“ rief Gabriele. „Er bricht ſich Bahn zu Ihnen ... Wenn er mich hier findet . O, mein Gott, was habe ich gethan!“ Erſt jetzt offenbarte ſich ihr wie in der grellen Beleuchtung eines Blitzes die Kühnheit ihres Schrittes, das Ungewöhnliche ihres Wagniſſes. In ſpäter Abend— ſtunde hatte ſie das Haus eines jungen Mannes auf— geſucht, ſie war allein mit ihm — was fragte die Geſchwätzigkeit, die Verleumdung nach den Gründen, die ſie vorwärts gedrängt? Was galt den Spöttern ihre Seelenangſt? Und wie all' dieſe Gedanken plötzlich mit der Geſchwindigkeit des Lichtſtrahls durch ihre Ge— hirn fuhren, zuckte es in ihrem Herzen. War es nur die Sorge, nur die Pflicht, einen Ahnungsloſen vor drohender Gefahr zu warnen, war es kein anderes wärmeres Gefühl geweſen, das ſie hierher getrieben? In Flammen der Scham ſchlug es ihr in dieſem ban— gen Augenblick über das Geſicht. „Dort hinaus, liebſte, theuerſte Gabriele!“ ſagt Karl und geleitete ſie zu einer Seitenthüre. „Bleiben Sie ganz ruhig, ich ſchicke Ihnen ſogleich einen Diener, 126 der Sie nach Haufe führen wird. Ihr Beſuch hatte keinen anderen Zweck als jenes Dokument zu fordern; Sie waren bei dem Inhaber der Firma Strupp und Compagnie.“ „Sie wollen dem Wüthenden entgegengehen?“ „Nein,“ erwiderte Karl, „ich füge mich in das Unvermeidliche und empfange ihn hier ...“ „Und wenn er Sie fordert? O, Karl . ..“ „Gabriele!“ — Er drängte ſie beinahe gewaltſam hinaus, ihm ſchwindelte, aber vor Freude. Karl hatte gerade noch Zeit, eine Feder zu er— greifen und ſeinen Auftrag an den Diener niederzu⸗ ſchreiben, da ward die Thüre aufgeſtoßen und Graf Hermann ſtürmte herein. Hinter ihm der Bediente. „Dort iſt der Herr!“ rief tobend der Graf. „Ja⸗ gen ſie den Flegel aus Ihrem Dienſt, Strupp! Er hat mich belogen! Behauptete, Sie wären ausgegangen. Ich kannte aber Ihre Geigenſtunde, richtig, da liegt der Fiedelbogen.“ „Und dennoch, mein lieber Graf,“ antwortete Karl aufſtehend und Hermann mit dem ſanfteſten Blick ſeiner braunen Augen ſtreifend, „hatte Philipp Recht. Ich bin nicht zu Haufe Wenn ich für Sie eine Aus- nahme mache, geſchieht es nur aus Freundſchaft. Bitte, nehmen Sie Platz. Philipp, den Zettel an Johann, 127 es muß jogleich beſorgt werden. Sie bleiben in der Nähe.“ Karl's Kaltblütigkeit ernüchterte ein wenig die Heftigkeit des Edelmanns. Dazu hatte das Gezänk mit dem Diener die erſte Sturzwoge des Zornes ge— brochen. Auf den Straßen hatte es Hermann nicht länger gelitten, es war ihm ein unabweisliches Be: dürfniß, ſich auszutoben. War es nicht das Räth— lichſte, er begab ſich noch in dieſer Stunde zu Karl und forderte ihn? Friſche Fiſche, gute Fiſche! Mit dieſer Abſicht war er die Treppe hinaufgeſtürmt und eingedrungen. Jetzt ſah er ſich doch etwas ſcheu und verlegen in dem Saale um. An den Wänden Bücher und Bilder, dort in der Niſche die Geſtelle, welche die koſtbaren Gläſer und Krüge, Becher und Schüſſeln trugen, die Karl ſammelte. Ein durchaus friedlicher und zur Stille zwingender Anblick. Auf dem Tiſch, neben Zeitungen, Büchern und Papieren lag die Geige; auf einem kleineren ſtand die geſchliffene Glasflaſche mit rothem Wein. Hermann empfand, daß ihm die Zunge am Gaumen klebte, er lechzte nach einem Trunke. „Sie bleiben in der Nähe?“ fragte er mit heiſerem Ton. „Was ſoll das heißen, Strupp? Haben Sie Furcht vor mir?“ Der Bankier ſah ihn groß an, lachte und er— 128 widerte: „Glaubte nur, daß Sie ein Glas Wein nicht verſchmähen würden, und daß Philipp uns eine beſ— ſere Flaſche beſorgen könnte, als jene dort.“ „Einerlei, ſchenken Sie ein!“ Karl füllte ſchweigend die Gläſer, ſchweigend ftie- ßen ſie mit einander an. In krauſe, düſtere Falten zog der Graf die Stirn, als er das Glas haſtig ge leert; er beſann ſich, wie er den Streit mit möglich⸗ ſtem Anſtande beginnen könne. „Schmeckt Ihnen der Wein nicht?“ meinte Karl. „Ich ſagte es Ihnen ja, er iſt zu leicht.“ Er hatte ſich erhoben und wollte nach der Klin⸗ gel greifen; ſeinen Arm faſſend, hielt ihn Hermann zurück. „Strupp“, rief er polternd, „Sie haben mich bis auf den Tod beleidigt, Sie werden mir Genug⸗ thuung geben!“ „Warum nicht? Aber das hindert doch nicht, daß ich Ihnen zunächſt beſſeren Wein vorſetze?“ Und in ſeinen amerikaniſchen Ton fallend, fuhr er fort: „Cal⸗ culire, daß wir uns gegenſeitig Erklärungen zu machen haben.“ Mit einer geſchickten Wendung hatte er ſich von dem Grafen befreit, zog die Klingel und gab dem Diener ſeine Befehle. Gelaſſen kehrte er dann an den 129 Tiſch zurück. „Sie haben das Vorrecht des Gaſtes,“ ſagte er ſich ſetzend. „Was werfen Sie mir vor?“ „Verrath!“ ſchlug Hermann mit der Hand auf die Tiſchplatte, daß die Gläſer zitterten. „Doch ſo können wir nicht weiter reden, Wind und Sonne ſind nicht gleich zwiſchen uns getheilt.“ „Ich verſtehe Sie nicht.“ „Der Kauf von Heinrichsfelde muß rückgängig den“ „Vergeſſen Sie nicht, daß die Kontrakte zur Unter— ſchrift uns vorliegen, daß ...“ „Ich werde nicht unterſchreiben, Niemand kann mich dazu zwingen ...“ „Gewiß nicht, aber wir werden klagen.“ „Das wäre unehrenhaft!“ i „Unehrenhaft, wenn wir unſern Anſpruch, unſer Recht wahrten?“ Karl hatte ſeine Brauen dichter zu— ſammen gezogen. „Erlauben Sie mir die Bemerkung, daß Sie in einem ſchlimmen Irrthum befangen ſind. Nicht mit mir, nicht mit Ihrem Freunde Karl Strupp haben Sie den Kauf abgeſchloſſen, ſondern mit Strupp und Comp., das ändert die Sache.“ „Juriſtiſche Spitzfindigkeiten, Advokatenkniffe!“ „Der Name thut nichts; Sie haben von Strupp— f und Comp. das Angeld erhalten, für andere Summen Frenzel, Lebensräthſel I. 9 150 haben wir gut gejagt, können Sie das ausgleichen?“ Hermann ſtützte den Kopf in die Hand. „Sie können es nicht“, ſagte Karl leiſe — eben brachte der Diener den Wein. So hoch die Wogen in Hermann's Bruſt gingen, in Sturm und Brandung trat eine geraume Pauſe ein, in der Karl die neuen Gläſer füllte. „Ein Freund redet zu Ihnen, Graf Lindenburg,“ ſprach er dabei. „Trauen Sie meiner Geſchäftskennt⸗ niß, Sie haben und finden auf der Stelle keinen Käufer, Ihr Rücktritt von unſerem Kontrakt giebt Sie nur Ihren Gegnern, den Wucherern wieder preis. Stellen Sie Ihre Ehre ſicher, indem Sie Ihrem Worte treu bleiben, und im Uebrigen trennen Sie meine Wenigkeit, von der Sie Genugthuung fordern, von Strupp und Comp. Thuen Sie es mir zu Liebe“, ſetzte er mit einem ſo komiſchen Ausdruck hinzu, daß Hermann wider Willen lachen mußte. „Aber glauben Sie nicht, daß dies Lachen Sie vor meinem Zorne rettet!“ Damit ſuchte er die Wir: kung ſeiner guten Laune wieder zu vernichten. „Ich glaube nichts, ſondern erwarte Ihre Eröff— nungen und Anklagen.“ „Wozu das Gerede? Sie wiſſen ſo gut wie ich, was mich gegen Sie empört hat, warum einer von 131 uns zu viel auf Erden iſt. Sie kennen Gabriele, Sie haben ſie vor mir verborgen gehalten, Sie lieben das Mädchen ...“ „Und Sie wiſſen ebenſo genau, daß dieſe Dame Sie nicht liebt, daß Sie vor Ihnen geflüchtet iſt, und ſollten als geborener Edelmann noch beſſer als ich die Ritterpflicht kennen und üben, unſchuldig Verfolgte vor ihren Verfolgern zu ſchützen.“ „Sie geſtehen alſo Ihren Treubruch ein?“ „Nichts geſtehe ich ein. Ich habe Fräulein Oſten bei der Frau Grunow geſehen; ich traf mit ihr zufällig auf dem Kirchhofe bei dem Grabe Ihres Oheims zu— ſammen.“ „Und das Alles verſchwiegen Sie mir?“ „Und würde es Ihnen immer verſchwiegen haben, denn mit welchem Rechte beunruhigen und beläſtigen Sie eine Dame, die ſie vermeidet, ſo viel ſie kann?“ „Hat ſie Ihnen dies geſagt?“ fragte Hermann höhniſch. „Nein, Sie ſelbſt haben es mir erzählt, Herr Graf, und die Verſtörung, in der ich Sie ſehe, läßt mich vermuthen, daß Sie vor Kurzem es von Neuem erfahren haben.“ „Herr, Sie beleidigen mich mit jedem Ihrer Worte von Neuem!“ 9* 192 „Iſt es denn jo ſchwer, daß Menſchen fich ver- ſtändigen?“ entgegnete Karl. „Bin ich es, der dieſe Verbindung hindert? Hindern könnte, wenn Sie und jene Dame ſie herbeiführen wollten? Nein, das Schick— ſal, die Verhältniſſe, der Wille Ihrer Mutter, der Wille des Fräuleins ſind dagegen; Sie allein ſtreben hartnäckig das Unmögliche an. Ich trete als Ihr Freund auf die Seite der Vernunft und der Sitte, und Sie nennen mein Verfahren Treubruch und Be— leidigung.“ N Indeß predigte er tauben Ohren; längſt war der Graf jedem verſtändigen Worte unzugänglich gewor: den; in ſich verſunken, brütete er Rache. Haſtig hatte er mehrere Gläſer Wein hinuntergeſtürzt und die in— nere Gluth dadurch noch mehr entflammt. „Strengen Sie Ihre Beredtſamkeit nicht weiter an“, ſagte er, „ſolche Verwickelungen, wie ſie zwiſchen uns beſtehen, brauchen eine blutige Löſung. Wenig⸗ ſtens nahm man das früher unter Ehrenmännern ſo an. Oder gehören Sie zu den Gegnern des Duells?“ Der Ton ſeiner Stimme hatte einen ſo hochmüthigen, boshaften und verletzenden Klang, daß ſich auch bei dem bisher geduldigen Karl das Blut empörte. Eine dunkle Röthe überzog ſeine Stirn, als er antwortete: „Ich halte den Zweikampf für eine bar⸗ 8 a = ER! x a 0 De 133 bariſche Thorheit, aber ich bin gern bereit, fie mit Ihnen zu begehen.“ „Topp!“ ſchrie Hermann. „Sie ſind ein Gentle— man, Strupp!“ Er hatte die Flaſche ergriffen und ſchenkte den Reſt des Weines in die Gläſer. „Zum letzten Male!“ „Bitte, dort ſteht mehr“ — deutete Karl nach einem Ecktiſche, auf den der Diener mehrere Flaſchen geſtellt hatte. „Waffen? Ort? Stunde?“ „Wann und wie es Ihnen beliebt,“ erwiderte Karl. „Pah, da fällt mir ein — ich kann Sie nicht er⸗ ſchießen! Nicht erſtechen! Man würde ſagen, ich hätte Sie getödtet, weil ich Ihnen meine Schulden nicht bezahlen konnte.“ „Das iſt ſehr möglich, die Welt iſt boshaft,“ meinte Karl trocken. „Dieſe Bedenken hätten Ihnen früher kommen ſollen.“ „Es gibt einen Ausweg, aber nur die Muthigen betreten ihn!“ Hermann's Augen funkelten; mit dem Zorn loderte der ſchwere Wein in ihnen. „Männer, die vor dem Tode nicht zittern, auch wenn ſie ihn Tage lang vorher unabwendlich heranſchreiten ſehen. Sie kennen und bewundern ja die Amerikaner. Ein amerikaniſches Duell?“ 134 „Wer das Loos zieht, tödtet ſich. Auch gut, al- lein Sie haben Unglück im Spiel.“ „Um ſo beſſer für Sie!“ höhnte Hermann. „Sie wollen mir ausweichen. Zwei gleiche Papierſtreifen, — auf dem einen Leben, auf dem andern Tod — wir werfen ſie in einen Becher und ziehen zur gleichen Zeit. Iſt's Ihnen recht?“ Der Dampf der Cigarren, der Dunſt des Weines, die für den weiten Raum nur matte und dämmerige Beleuchtung, die Halbſchatten — Alles trug dazu bei, eine eigenthümliche phantaſtiſche Stimmung zu erzeu⸗ gen; immer tiefer wurden die beiden jungen Männer, ſich gegenſeitig mit herausfordernden Blicken meſſend und dadurch ihre Aufregung ſteigernd, in den Abgrund hinabgeriſſen. „Vollkommen einverſtanden“, erhob ſich Karl und ging nach den Geſtellen, einen Becher herunter zu neh: men, der zu dem grauſen Spiel dienen ſollte. In⸗ zwiſchen ſuchte Hermann nach Papier und Scheere. Sorgſam prüfend ſchnitt er zwei gleich lange und breite Streifen aus, malte auf das eine in großem Zuge ein L, auf das andere ein T hin und warf die Feder fort. Dabei mochte er unvorſichtig an die Geige geſtoßen haben. Das Inſtrument gab einen ſchrillen 10 klagenden Laut von ſich. „Das Grabgeläut für einen von uns“, ſagte Hermann. Indem kehrte Karl mit einem Becher in der Hand wieder zum Tiſch zurück. Er war erdfahl. Aber auch aus Hermann's Geſicht wich die Farbe des Le— bens, als er unter der Ampel den Becher blitzen ſah. „Lucretia's Becher! Sind Sie vom Teufel be— ſeſſen, Strupp? — Oder hat Ihnen die neue Lucretia den Becher zum Liebesgeſchenk gemacht?“ „Bedauere! das Stück iſt auf ſehr proſaiſche Weiſe erworben worden, durch Kauf.“ „Gerade wie Heinrichsfelde. Es iſt aus mit dem Adel, es lebe die Börſe! Hat Gabriele den Becher verkauft — auch wegen Schulden und Wechſel?“ „Ihre Werbungen hatten das arme Mädchen aus dem Schloſſe getrieben; ihr Erbtheil zu berühren, war ſie zu ſtolz, ſie gerieth in Noth und verkaufte den Becher. Ich habe ihn erſt aus der dritten oder vier— ten Hand und kann daraus keinen Vorwurf für mei— nen Stand ziehen laſſen. Wir erwerben, was Sie vergeuden; wir heben auf, was Sie wegwerfen.“ „Wer den Becher hat, hat das Glück und das Mädchen. Machen wir ein Ende! Gefallen Ihnen die Looſe?“ Karl blickte gar nicht auf die Papierſtreifen und 136 winkte mit der Hand, daß er Allem zuſtimme, was Hermann gethan. Der rollte die Streifen dicht zu— ſammen, die Finger zitterten ihm, bis in ihre Spitzen glühte das Fieber. So legte er die Looſe in den Becher, dann griffen Beide hinein; Karl's Rechte war kalt, Hermann's heiß, wie die eines ſchwer Kranken. Jeder hatte einen Streifen gezogen. Der Graf entfal⸗ tete den ſeinen zuerſt. „Tod!“ ſchrie er auf, taumelte und wäre gefallen, wenn nicht der Freund ihn feſtgehalten und in den Seſſel niedergedrückt hätte. „Ich ſagte es Ihnen ja, daß ich Glück im Spiele habe“, ſprach Karl tonlos. Der ungeheueren Spannung war eine tiefe Er⸗ ſchlaffung, dem lauten Reden und Rufen Todtenſtille gefolgt. An der Seite des Tiſches ſtand Karl mit übereinandergeſchlagenen Armen, mit halbgeſchloſſenen Augen, alle Gedanken und alle Sinne gleichſam nach innen gewandt, wie losgelöſt aus Zeit und Raum; auf der andern lag Hermann halb ausgeſtreckt in dem Seſſel, den Kopf auf der gepolſterten Rückenlehne, mit gläſernen Augen nach der Decke ſtarrend. Zwiſchen Beiden glänzte der Becher; hüben das Loos des Les bens, drüben links von ihm auf der mit grünem Tuch bezogenen Tiſchplatte das Joos des Todes. Einmal 137 war es Karl, als rauſche und bewege es ſich im Ne: bengemache, als würden dort Laute vernehmlich wie unterdrücktes Schluchzen und Weinen; er ſchauerte und fuhr auf. Aber wie er nun ſchärfer hinhorchte, war Alles ſtill, Alles umher einem weiten Grabe ähn— lich, wo nichts als Todtenurnen und Särge in einem nie gebrochenen Schweigen ſich an einander reihen. „Sie kann nicht mehr dort ſein,“ tröſtete er ſich, „wehe uns Beiden, wäre ſie Zeugin dieſer Tollheit geweſen!“ Denn daß hier eine unverantwortliche Tollheit begangen, ein freventliches Spiel getrieben worden, in dieſen bangen Minuten, wo ſeine Seele wie aus einem wilden dämoniſchen Taumel wieder zum Selbſtbewußt— ſein zurückkehrte, und der Verſtand alle Dinge in das Licht der Wirklichkeit rückte, war er davon und noch mehr von ſeiner Schuld auf das Tiefſte überzeugt. Ja, von ſeiner Schuld! Er als der Ruhige und Nüchterne hätte ſich nicht von der Leidenſchaft des gereizten Freundes fortreißen laſſen dürfen. War dies eine Gelegenheit, ſeinen Muth zu beweiſen? Wie ein echter Raufbold hatte er die Herausforderung eines Mannes angenommen, der unzurechnungsfähig war — ein blind— wüthiger Stier in der ſpaniſchen Arena, der auf das rothe Tuch des Matadors zuſtürzt. Nicht die An⸗ 138 nahme, die Verweigerung des Zweikampfs hätte ein Zeugniß für die Standhaftigkeit und Unerſchrockenheit ſeiner Seele abgelegt. Zuerſt war ihm Alles wie ein Scherz erſchienen, eine komiſche, aus allerlei Irrungen entſtandene Verwickelung, die ſich ohne Mühe würde löſen laſſen, jetzt hatte ſich der Scherz in bittere Ernſt— haftigkeit verwandelt, das Gewebe zu einem gordiſchen Knoten verſchlungen. Traue ſich doch Keiner die Kraft zu, mit den geheimen Mächten des Lebens zu ſpielen! — Sie waren in ein Labyrinth gerathen und kein Ariadnefaden da, ſie hinauszuretten. Karl ward dies anhaltende Schweigen unerträg— lich, der Anblick des noch immer in Erſtarrung liegenden Freundes eine herzzerbrechende Qual; er riß eines der hohen Fenſter auf. Von unten herauf drang der Lärm der Straße; die Wagen rollten unabläſſig hin und her; es war die Zeit, wo die Schauſpielhäuſer, die Konzertſäle ſich ſchließen. Ein friſcher Wind wehte von dem dunklen, prächtig geſtirnten Nachthimmel ihm entgegen und ſtrömte erquickend in das Gemach. Dies ſer Luftſtrom mochte auch die ſchwere heiße Stirn Her— mann's treffen, er fuhr mit der Hand darüber, als könne er einen furchtbaren Traum und die wüſten Nachtgeſichte von ſich verſcheuchen. Langſam richtete er ſich auf, allmählig gewann er feine ſoldatiſche Hal= 139 tung wieder und ſtand kerzengrade, untadelhaft Karl gegenüber, der von dem Fenſter ſich zurück und ihm zugewandt hatte. „Zehn Uhr vorüber“, ſagte Hermann, „es iſt Zeit, daß ich gehe. Sie werden müde ſein, Strupp, ich bin es auch.“ „Müde, vor Mitternacht?“ entgegnete Karl. In ſeinem ſanften Geſicht ſchimmerte etwas von jener er— habenen Ruhe und dem Sternleuchten des Himmels. „Seit wann fallen Ihnen die Augen jo früh zu? Ueb— rigens dächte ich, hätten wir noch Manches mit ein— ander zu beſprechen.“ „Meinen Sie?“ Hermann dehnte und reckte ſich wie einer, der, aus dem Schlaf erwacht und aufge— ſprungen, wieder Herr über ſeine Glieder zu werden ſucht. „Ich dachte, wir wären mit einander zu Ende.“ Doch ließ er ſich ohne Widerſtand von Karl, der ſeine Hand ergriffen hatte, zu ſeinem Sitz zurückführen. „Durchaus nicht; ich fürchte ſogar, wir müſſen von Neuem beginnen. Bei allen amerikaniſchen Duellen iſt die Feſtſetzung des Zeitpunktes nothwendig, bis zu dem es ausgetragen wird. Sie begreifen? Dies haben wir verſäumt; wenn die Spielregel verletzt, iſt das Spiel ungiltig. „Sie ſind ein Flauſenmacher, Strupp! Das waren 140 Sie immer. Wir können auch nach der Entſcheidung der Looſe die Zeit feſtſetzen, wo“ — er machte eine Bewegung nach ſeiner Stirn. „Wenn Sie das Spiel für giltig erachten wollen, ich waſche meine Hände in Unſchuld. Nur werden wir dann noch einmal loſen müſſen; ich weiß kein anderes Mittel, uns über den ſchickſalsvollen Tag zu einigen.“ „Nicht aus dem Becher dort!“ rief Hermann und ſchob ihn mit dem Rücken der Hand zurück. „Nehmen Sie ihn fort, Strupp! Es iſt ein unheimlicher Zauber darin.“ „Noch von Lucretia Borgia? Das wäre lange her.“ „Laſſen Sie ſich rathen, Strupp, werfen Sie das Ding fort. In den Fluß, in einen Abgrund, es klebt Schuld und Fluch daran. Die dunklen Andeutungen des Oheims hätten es mir ſchon offenbaren müſſen, aber ich bin ein leichtſinniger Menſch; in dies Ohr hinein, zum andern hinaus. Bei mir haftet nichts, am wenigſten ſolche alte Geſchichten.“ „Erzählen Sie nur! Je grauslicher, um jo beſſer,“ — und Karl rührte im Kamin die Kohlen auf und ſchüttete neue hinzu. Er hoffte, die Erzählung würde den Freund auf andere Gedanken bringen und ihm ſelbſt die Muße verſchaffen, ſeinen Plan ſtill bei ſich 141 auszuſpinnen. Es ſtand feſt bei ihm, daß der Graf dieſen Saal nicht verlaſſen dürfe, bis er feierlich ver— ſprochen, auf die Ausführung des unſinnigen Gelöb— niſſes zu verzichten. „Da iſt nicht viel zu ſagen. Der Becher ge- ie „Hat ihn Ihr Oheim nicht in Italien erworben?“ „Ob in Italien, weiß ich nicht, aber von einer Italienerin.“ „Das iſt intereſſant.“ „Sie haben nie von einer großen italieniſchen Sängerin Camilla Rota gehört“ ... „Doch, ältere Muſiker haben mir mit Entzücken von ihr geſprochen. Allein ſie ſoll nur ein- oder zweimal in unſerer Stadt geweſen ſein, nur ſelten geſungen haben und jung in Venedig geſtorben ſein.“ „Sie wiſſen Alles, Strupp ...“ „Pah, die Muſik iſt meine Liebhaberei. Ohne meinen Vater ..“ „Wären Sie Paganini der Zweite geworden. Ein: mal alſo, vor einigen zwanzig Jahren war die Sig— nora hier, vermuthlich mit dem Becher. Sie ſoll wie Lucretia Borgia ausgeſehen haben, blonde Locken, graue Augen ... Mein Oheim verliebte ſich ſterblich in ſie. Wenn er einen melancholifchen Abendſpazier— 142 gang in Heinrichsfelde nach den Kieferhöhen mit mir machte, konnte er noch von ihr ſchwärmen und im Angedenken an ſie zuſammenſchauern.“ | „Liebte fie ihn denn?“ fragte Karl träumeriſch; er dachte an Gabriele. „Wetter und Sturm, wer darauf eine beſtimmte Antwort hätte! Bei einem echten Weibe! Heute wird ſie ihn raſend geliebt und mit ihren Küſſen erſtickt, morgen wird ſie ihn genarrt oder mit ihren Krallen zerriſſen haben. Das verſtehen Sie nicht, Strupp, Sie find ein Duckmäuſer ...“ „Verſtehe es ſchon, in dem Gedicht von Heine nämlich, in Wirklichkeit werde ich es nicht erleben. Ich bin zu trocken und zu furchtſam dazu.“ „Bravo! Darum jagen auch alle Weiber Ihnen nach — bis auf Dame Fortuna!“ „Von Ihrem Oheim ſprachen Sie.“ „Sie wird ihm das Leben heißgemacht haben, die italieniſche Wetterhere. Wenn ſolch' ein Weib ſingt, iſt ſie unwiderſtehlich . . .“ Leiſe beſtätigend nickte Karl mit dem Kopfe; war es nicht auch Gabrielens Geſang geweſen, der zuerſt ſein Herz ergriffen und in ſüße, weiche Sehnſucht hatte dahinſchmelzen laſſen? „Kurzum, Ruhdorf war bezaubert, verblendet, ein 143 willenloſer Sklave. Er war in dem Alter, wo die Schwaben klug werden, es iſt das gefährlichſte in Bezug auf die Liebe für Männer von gefühlvollem Herzen. Was ſehen Sie mich ſo ſpöttiſch an? Es iſt eine Bemerkung von einem franzöſiſchen Moraliſten. Als ſie unſere Hauptſtadt verließ und nach Wien oder Mailand reiſte, folgte er ihr, obgleich er ſeine Othello— Stunden hatte, wo er von ihrer Untreue überzeugt war und fie am liebſten mit ihrem rothen Shawl er— droſſelt hätte. So zog ſich das Verhältniß hin und her, in Liebe und Eiferſucht; endlich, als ſie wieder zu uns zurückgekehrt, brach es ganz. Eine Weile hatte es geſchienen, als ob Ruhdorf ſie heirathen würde; ganze Tage hatte ſie mit ihm in Heinrichsfelde zuge— bracht — dann aber kam es anders. Ueber Nacht verließ ſie ihn, die Stadt und entfloh. Die Einen ſagen, daß ſie ſich vor ſeiner Wuth gefürchtet habe, er hätte ein Meſſer gegen ſie gezückt, die Andern, daß ſie einen beſſeren, jüngeren und reicheren Liebhaber gefunden. Sie ſoll bald nachher in Venedig geſtorben ſein — Künſtlerleben!“ „Aber in Ihrer ganzen Geſchichte iſt der Becher unſchuldig und rein wie ſein Silber geblieben.“ „Doch nicht, denn dieſen Becher hinterließ ſie ihm mit ihrem Fluche ...“ 144 „Ihr Oheim, ein moderner König von Thule!“ „Nicht ganz, es war ein Häkchen dabei, ein Kind!“ „Ein Kind — und es lebt? Sie kennen es?“... In einer bangen Ahnung erbebte Karl. „Heikle Fragen! Ich habe nur eine Vermuthung ... Sie brauchen nicht daran zu glauben, wenn es nicht in Ihre Rechnung ſtimmt .. . Halt da, ehe ich die Wette löſe, feiern Sie Ihre Vermählung mit der klei⸗ nen Cäcilie Grunow .. . Ich tanze noch mit der Braut und ſchieße mich nachher todt ...“ „Was wiſſen Sie von jenem Kinde?“ drängte Karl. „Laſſen Sie doch Cäcilie in Ruhe; ich werde ſie nie heirathen.“ „Sie iſt ſchöner und, worauf ein Bankier doch Gewicht legen ſollte, viel reicher als die Andere ...“ „Da wäre es eine Frau für Sie,“ rief ungeduldig Karl, „und ich könnte den Brautwerber ſpielen. Aber das Kind . ..“ Mit einem jähen Satz ſprang Hermann in die Höhe und fuhr ſich wild mit der Hand durch die Haare: „Haha! Das iſt ja eben die Andere — Gabriele!“ Ehe Karl ein Wort zu äußern, ſich aus ſeiner Beſtürzung zu reißen vermochte, erſcholl im Nebengemach ein lauter Schrei, ein ſchwerer Fall ... Hermann ſtutzte, doch rührte er ſich nicht von der Stelle, als 145 hielte ihn der Becher in feinem magiſchen Banne feit; Karl dagegen hatte in der Angſt ſeines Herzens um die Geliebte jede Vorausſicht des Kommenden verloren und war an die Thüre geeilt. Als er ſie geöffnet, lag drinnen auf dem Teppich, der den Fußboden be— deckte, Gabriele auf ihren Knieen, das Geſicht in den Händen. In dieſem Augenblick ſah Karl in der Welt nichts als ſie, die thränenüberſtrömte, rührende Ge— ſtalt. Er flog auf ſie zu, hob ſie empor und drückte ſie an ſeine Bruſt. „Es iſt Alles gut“, wollte er ſagen, „wir gehören einander für's Leben.“ Da tönte ein häßliches, krampfhaftes Lachen hinter ihm ... Hermann ſchien bereit, ſich auf fie zu ſtürzen und ſie zu tödten — aber ſei es nun, daß er ſich ſelbſt bezwang, daß ein Etwas ihn hemmte, er er— griff nur den Becher und ſchleuderte ihn zum Fenſter hinaus: „Verfluchte Gaukelei!“ Gabriele hatte ſich aus Karl's ſie umſchließenden Armen geriſſen, dieſer blickte ſich um . . . Hermann hatte die Bibliothek verlaſſen, ſie hörten ihn den Korridor entlang und die Treppe hinab ſtürmen. „Er iſt im Fieber und thut ſich ein Leid an,“ rief Karl. „Bes ruhigen Sie ſich, Gabriele; ich eile ihm nach er ſoll nicht wie ein Tollhäusler enden.“ Frenzel, Lebensräthſel I. 10 146 Gabriele war allein, in einer unbeſchreiblichen Ge- müthsverfaſſung. Das ſonſt jo friedliche und wohl— geordnete Zimmer bot einen Anblick der Zerſtörung. Umgeſtürzt lag der Seſſel, in dem Hermann geſeſſen; eins von den Weingläſern war umgeſtoßen und der rothe Wein floß über die grüne Tiſchdecke und den Papierſtreifen mit dem ſchrecklichen T darauf, langjam, wie rinnende Blutstropfen. Daneben die geleerten, die noch zur Hälfte vollen Flaſchen; der Zugwind, der durch das offene Fenſter ſtrömte, hatte die Papiere, und die Zeitungsblätter vom Tiſche auf den Boden herabgeſtreut, unruhig ſchwankte in ihren feinen Bronze⸗ ketten die Ampel hin und her. Gerade ſo verworren und wüſt ſah es in Gabrielens Innern aus. Wohl war ſie entſchloſſen geweſen, Karl's Wohnung in Be⸗ gleitung des Dieners zu verlaſſen, aber gleich die erſten tobenden Worte Hermann's bei ſeinem Eintritt in den Bücherſaal hatten ſie umgeſtimmt. Eine namenloſe Angſt hatte ſich ihrer bemächtigt; um das Aeußerſte durch ihre Dazwiſchenkunft zu verhindern, war ſie geblieben. Die eigenthümliche Atmoſphäre, welche die beiden jungen Männer wie der Nebel, in den ſich das Schickſal hüllt, umſchwebte, hatte ſich allmählig auch ihr mitgetheilt. Und was hatte ſie hören müſ⸗ fen! Den Streit der Beiden, das entſetzliche Loos⸗ 147 ſpiel um Tod und Leben und zuletzt ihr eigenes Ge— ſchick. Sie war Ruhdorf's Tochter . . . Darüber hin— aus vermochte ſie nicht zu denken. Sie ſank nieder mit gefalteten Händen, in wortloſer Zerknirſchung. Lärm und Geſchrei von der Straße her erſchreckte ſie. Halb erhob ſie ſich vom Boden, den Arm auf das Kniee ſtützend ... Die Rufe drangen näher .. „Behutſam! Hierher! Stützt ſeinen Kopf beſſer!“ ſagte draußen Karl . .. Sie brachten einen Verwundeten oder Todten herein. Die Lippen auf einander preſ— ſend ſtand Gabriele, die Locken in Unordnung, bleich wie ein Bild von Stein, wären ihre dunkeln, düſter funkelnden Augen nicht geweſen. „Legt ihn dort nieder“, zeigte Karl auf ein breites und langes Ruhebett, „nehmt mehr Kiſſen! Waſſer und Leinen, um die Wunden zu waſchen und zu ver— binden.“ Es war Hermann, den die Diener trugen. Er lag mit geſchloſſenen Augen, das Antlitz blutüberſtrömt, die Kleider zerriſſen und mit Schmutz beſpritzt. Auf der Stirn klaffte eine tiefe Wunde, wie von dem Huf— ſchlag eines Pferdes. Gebrochen hing der linke Arm herab, aber die Rechte hielt krampfhaft etwas Glän: zendes umſchloſſen: es war der Fuß des ſilbernen Bechers mit dem Wappen der Borgias darauf. 10* 148 Karl war zu Gabrielen getreten. „Bleiben Sie bei dem Unſeligen“, bat er. „Er wird, er ſoll nicht ſterben. Ich eile zum Arzt. Nur jetzt keine falſche Scheu und Scham . . . Sie find die Herrin dieſes Hauſes, Gabriele, Sie ſind es, heute und immer!“ Erſt nach einer Stunde, als der Doktor die Wun— den unterſucht, den Zuſtand des Kranken geprüft und ſeine Bedenken nicht verſchwiegen hatte, da das Fieber die Gefahr auf das Höchſte geſteigert, erfuhr Gabriele den Zuſammenhang des Ganzen. In ſeiner Raſerei war Hermann aus dem Hauſe geſtürzt, ehe ihn Karl erreichen konnte. Aus der Thür tretend, ſieht er den Becher vor ſich, mitten auf dem Damme der Straße. Wie dämoniſch blitzt das Silber in dem Wiederſchein der Laternen. Im ſchnellſten Trab, von kräftigen Pferden gezogen, kommt ein Wagen daher, ſeine Rä⸗ der werden den Becher zermalmen. Taumelnd wirft ſich ihnen Hermann entgegen; will er ſie aufhalten, die Räder zerbrechen? In dieſer Sekunde eilt Karl aus dem Hauſe. Wild aufbäumen ſich die Pferde; der Kutſcher glaubt einen Betrunkenen oder Wahn: ſinnigen vor ſich zu haben uud erhebt die Peitſche. Dieſe Bewegung macht Hermann vollends toll, er will den Kutſcher herabreißen, dem entfallen die Zügel — von einem Roſſehuf getroffen, ſtürzt Hermann auf das 222 ̃˙ .... — . 149 Pflaſter, der Wagen geht über ihn und den Becher dahin. Nur den abbrechenden Fuß deſſelben behält er in der Hand — die Rundung mit den herrlichen Ara- besten und den Reliefgeſtalten der Hochzeit von Cana wird von den Pferden und den Rädern zermalmt ... Als die Gräfin Lindenburg, mit gebeugtem Haupt, in der Todesangſt der Mutter zu dieſer Friſt ihres Stolzes vergeſſend, an dem Lager, das man Hermann in der Bibliothek bereitet, erſchien, ſah ſie ſorgend um ihn Gabriele beſchäftigt — auf dem Teppich lag der Reſt des Bechers. Er war aus der Hand des Kranken geſunken. „Meine Verlobte“, flüſterte Karl der Gräfin leiſe zu, um die Anweſenheit des Mädchens zu erklären. Um den Mund der vornehmen Dame zuckte etwas, aber ſie erwiderte kein Wort, nickte nur ein wenig mit dem Kopfe und ſank lautlos und thränenlos über den Leib des im Fieber Stöhnenden. Er erkannte Nie⸗ mand, die Uhr ſchlug die Mitternachtsſtunde 82 Viele Wochen ſind ſeitdem in's Land gegangen, langſam iſt Hermann geneſen. Die Krankheit und der Blutverluſt haben ſeinen wilden Sinn gezähmt. All⸗ mählig hat er ſich daran gewöhnt, Gabriele als die Verlobte ſeines Freundes zu betrachten, nur zuweilen 150 blickt er fie noch mit furchtſamen Augen an. Er ſcheint in ihr ſeine Vergangenheit und die Veranlaſſung ſeiner Tollheit zu ſcheuen. Ruhiger und freier fühlt er ſich in der Geſellſchaft Cäciliens und Niemand zweifelt daran, daß er das reiche Mädchen heirathen wird, ſo— bald er wieder der ſtolze und ſtattliche a li, von früher iſt. Wohl hat Gabrielens Herz noch einen ſchweren Kampf kämpfen müſſen, gegen ſich ſelbſt, ehe ſie ihre Hand in die Karl's gelegt. In dem Vermächtniß, das ihr der Freiherr hinterlaſſen, haben ſich die Dokumente ihrer Geburt, die Beichte Ruhdorf's gefunden. Nur dieſe hat ſie behalten, das Geld den Armen gegeben. Ja, ſie iſt ſeine, iſt Camilla's Tochter. Schon in ihrer früheſten Kindheit hatte der Freiherr ſie zu dem Lehrer und deſſen Frau gebracht, deren Namen ſie angenommen, die ihr in Wahrheit Vater und Mutter geworden. Zugleich mit dem Kinde hatte er ihnen ein kleines Kapital übergeben, das zu Gabrielens Erziehung ausreichend erſchien. Er ſelbſt hatte, in der Tochter die treuloſe Mutter haſſend, in dem Aber: glauben, daß er von ihr eben ſo viel des Leids und der Schmerzen wie von jener würde erdulden müſſen, ſich im Stillen gelobt, ſie nie wieder zu ſehen. Jahre lang war er ſeinem Verſprechen treu geblieben; in der “ 151 Einſamkeit ſeines freudloſen Alters erwachte in ihm die Sehnſucht nach ihr; nicht das Elend, die Seligkeit der Vergangenheit umſchwebte ihn und das verklärte Bild Camilla's ließ die Tochter um ſo reizender erſcheinen. Nach mühſamer Nachforſchung entdeckte er ihren Auf— enthalt; als Geſellſchafterin kam ſie in ſein Haus. Vergebens hatte ihm ſein Freund, der alte Strupp, gerathen, das Verhältniß durch ein offenes Bekenntniß klar zu ſtellen und das Mädchen zu adoptiren. Aus Furcht vor der herriſchen Schweſter verſchob Ruhdorf die Erfüllung der läſtigen Pflicht von Tag zu Tag, bis es zu ſpät war. — Lange weinte Gabriele dem Vater nach; die Mut: ter hatte ſie nicht gekannt. In ihrer ſtolzen und em⸗ pfindlichen Seele ſträubte ſich ein Geheimes gegen die Verbindung mit Karl. Wie, dieſer gute, tapfere, hin- gebende Mann, der die Edelſte verdiente, ſollte ſie, ein namenloſes Mädchen, heimführen? Aber zuletzt mußte ſie ſeiner Liebe und dem eigenen Gefühl nach— geben. Deine Bedenken, meinte die altkluge Freundin, werden am Hochzeitstage wie Regenwolken im April vor dem Sonnenſchein zerflattern. Und ſo geſchah es. Im Schloſſe zu Heinrichsfelde, in dem großen Saal, in dem einmal Napoleon getafelt, unter alten Majo- licaſchüſſeln und venetianiſchen Gläſern, unter Gold— 152 ; und Silberarbeiten ſteht der Fuß von Lucretia’3 Be⸗ cher; alle Vorſchläge von Freunden und Künſtlern, eine Nachbildung des zerſtörten Kunſtwerkes verſuchen zu laſſen, haben Karl und Gabriele abgewieſen; ſie be— trachten mit einer ſonderbaren Miſchung von Freude und Furcht dieſen armſeligen Reſt, in dem ſie das ſeelenloſe und doch ſo gewaltige Werkzeug einer ge— heimnißvollen, alles Irdiſche bindenden und verknü⸗ pfenden Gewalt erkennen. * Erſtes Kapitel. Des Nachmittags, wenn der Eiſenbahnzug aus der Hauptſtadt eintraf, war bei gutem wie bei ſchlech— tem Wetter der Bahnhof der Sammelplatz aller Müſ⸗ ſiggänger und Neugierigen, der ganzen vornehmeren Geſellſchaft der kleinen Stadt. Noch war er etwas Neues, denn erſt ſeit zwei Jahren verband der Schie— nenſtrang die in ihrem Thal zwiſchen einem mäßigen Fluß und maleriſchen Bergen wie weltverloren dalie— gende Stadt mit der großen das Land durchſchneiden— den Straße; ſeine Größe und gefällige Architektur machten ihn überdies neben dem alterthümlichen Rath⸗ haus und einer leider arg in Verfall gerathenen gothi— ſchen Kirche zu den Merkwürdigkeiten des Orts, die man nicht ohne Stolz den Fremden zeigte und mit Genugthuung von ihnen bewundern hörte. Ein an: 156 genehmer Spaziergang unter jchattigen Weiden, auf der einen Seite von dem Fluſſe, der im tiefen Bett mit ſchneller Strömung dahin eilte, um unterhalb der Stadt die Räder mehrerer Mühlen zu treiben, begleitet und von dem kühlen Hauch einer ſolchen Waſſermaſſe erfriſcht, führte in einer halben Stunde von dem Thore der Stadt zu dem Bahnhof hinaus. Jetzt, auf der Grenzſcheide zwiſchen Sommer und Herbſt, an ſonnenheiteren Septembertagen, gab es in der näheren Umgebung kaum einen behaglicheren Vergnügungsort, als den Bahnhof, der von den Fenſtern und Balkonen ſeines oberen Stockwerks eine weite Ausſicht in die Landſchaft hinein und auf die Bergkuppen, die ſie im Halbkreis umſchloſſen, auf Stadt und Fluß ge— währte, und zugleich mit ſeinem Menſchengewühl, dem lebendigen Treiben auf und ab immer neue Anregungen bot. Das ſchöne Wetter, das nun ſchon eine Woche angehalten und noch eine längere Reihe guter Tage verhieß, hatte den Fremdenverkehr anſehnlich geſteigert; jeder Zug brachte der Stadt neue Gäſte, die von ihr aus die romantiſchen Felsthäler des Gebirges durch: ſtreifen wollten. Unter ſo vielen Vergnügungsreiſenden, älteren und jüngeren Landſchaftsmalern, die im Thal und zwiſchen den Felſen Stoffe zu größeren oder klei— neren Bildern ſuchten, fanden ſich aber auch, wie 157 die Einwohner der Stadt hofften, gewichtigere An— kömmlinge. Seit einem Monat ſprach man hin und her von dem Verkauf einer Sägemühle, die einen nicht unbe— deutenden Handel ſelbſt in weitere Entfernung trieb, ſie war in den Zeitungen ausgeboten worden und unge— duldig wurden die Käufer erwartet. Mit einigem Gelde würde es ein Leichtes ſein, das Unternehmen zu vergrößern, das Geſchäft und den Umſatz zu ver— doppeln; wenn nur überhaupt erſt der Blick der Capi⸗ taliſten und Induſtriellen ſich auf die Stadt gerichtet, würde ihr eine neue Morgenröthe aufgehen. Der waſſerreiche Strom, die Wälder auf den Höhen, in mäßiger Ferne ein unerſchöpfliches Steinkohlenlager, das bisher, wegen der mangelnden Eiſenbahn, nicht genügend ausgebeutet worden, ſchienen zu Fabrikan— lagen jeder Art einzuladen und nur des kühnen Man: nes zu harren, der ſie ſich dienſtbar machte. Wenig: ſtens waren dies die Meinungen und Wünſche der Städter, der Kreis, in dem ſich ihre Unterhaltung be: wegte, um ſo ausſchließlicher, da dieſer und jener der durchreiſenden Fremden, der ein Fachmann war oder ſich dafür ausgab, bereitwillig auf ihre Anſichten und Hoffnungen einging. Durch ſolche Zuſtimmungen wuchs das Luftſchloß, aus der geliebten Heimath eine an? 158 ſehnliche, weltberühmte Fabrikſtadt zu machen, für die guten Bürger, die in den letzten Jahren durch tiefgrei⸗ fende wirthſchaftliche Umwandlungen aus ihrem Halb: ſchlummer geriſſen waren, immer höher und ſtattli— cher auf; von allen Lippen klang das Wort: die Stadt hat eine glänzende Zukunft! So war es nur natürlich, daß man mit lebhafter Theilnahme die Fremden muſterte, die an jedem Nach⸗ mittage, wenige Minuten nach fünf Uhr, aus den Eiſenbahnwagen ſtiegen. Einmal mußte doch der Gold— mann, der Induſtriekönig unter ihnen ſein, der die herrlichen Träume verwirklichte — oder doch, meinten die Beſcheideneren, die erſte Hand an das große Werk legte, deſſen Vollendung den Enkeln überlaſſen blieb. Heute wurde der Gegenſtand in einer Gruppe, die ſich aus einigen Lehrern des Gymnaſiums, einigen Beamten des Gerichts und dem boshaften, aber „grundgelehrten“ alten Arzt um einen Tiſch in der Halle gebildet, be⸗ ſonders eifrig erörtert. Grüßend war eben ein noch junger Mann an den Herren vorübergegangen; ver— wundert, pfiffig einander zunickend, ſahen ſie ſich an und verließen mit keinem Auge den vorwärts dem Zuge entgegen Eilenden. Der Bürgermeiſter auf dem Bahnhof! Sollte das nichts zu bedeuten haben? hieß es. Hat er den Goldfiſch im Netz? Erwartet er den 159 großen Unbekannten? — In der That hatte ſich der Bürgermeiſter, der zu ſeinem Glück nicht mehr der „neue“ war, in ſeiner ſechsjährigen Verwaltung ſo bedeutende Verdienſte um das Emporkommen der Stadt erworben — ihm verdankte ſie die Gasbeleuchtung und die Eiſenbahn — daß man ihm recht wohl auch „die Heranziehung des großen Capitals“ zutrauen durfte; ein Mann, dem es gelungen war, die Regie— rung hinſichtlich der Bahnlinie für feine Pläne zu ge- winnen, konnte noch mehr vollbringen. „Wehe,“ ſagte der Doctor ſpöttelnd, „wehe den Wunderthätern! Ein Wunder befriedigt die Menge nicht, ſondern macht ſie nur durſtig; unſer Moſes-Wildenhagen ſoll aus jedem Felſen Waſſer ſchlagen.“ Er verfocht allein die Anſicht, daß aller Wahrſcheinlichkeit nach der Bürgermeiſter keinen König Midas, ſondern einen Bekannten, einen gleichgültigen“ Reiſenden „ohne Conſequenz“, der nur Gebirgsluft genießen und grüne Wälder ſehen wolle, aus dem Wagen holen werde. Da fuhr pfeifend, ziſchend, puſtend die Locomo: tive in den Bahnhof. Nun drängte Alles lärmend, lachend vor, die Thüren der Waggons öffneten ſich, Laſtträger boten ihre Dienſte an, um die Wette rühm⸗ ten die Diener der drei Gaſthäuſer der Stadt die Vor⸗ trefflichkeit des ihrigen, jedes beſondere Geſpräch ver: 160 ſtummte eine Weile in dem allgemeinen Stimmengewirr und das bunte Durcheinander feſſelte ausſchließlich die Aufmerkſamkeit. Selbſt im Hochſommer war es nicht ſo zahlreich und mannigfaltig geweſen. Mehr als eine Geſtalt im abenteuerlichſten Coſtüm tauchte auf, die kleinen Irrungen und Verwirrungen, die von dem modernen Reiſen unzertrennlich ſind, erheiterten die unbetheiligten Zuſchauer. So wäre der Bürgermeiſter mit dem Freunde, den er erwartet, beinahe unbeachtet in dem Getümmel verſchwunden und zu dem Wagen, der vor dem Ausgangsthore hielt, gekommen, wenn ihn nicht die grauen Augen des Doctors mit ihrem Falkenblick verfolgt. „Hm!“ murmelte er, den Kopf aufwerfend. „Was iſt das?“ Und er rieb ſich eifrig die krausgezogene Stirn. „Das Geſicht ſollte ich kennen!“ „Wen? Den Mann mit dem Plaid über der Schulter?“ fragte der Gerichtsrath neben ihm und rückte an ſeiner Brille. „Welche Verbrecherphyſiogno⸗ mie!“ Er witterte überall dunkle Thaten und ge heimnißvolle, das Licht der Juſtiz ſcheuende Begeben⸗ heiten. „Nicht doch! Ich meine den Herrn mit dem blon⸗ den Vollbart, der ſeinen Arm in den des Bürgermei⸗ ſters legt.“ 1 1 f 1 10 161 „So, ſo!“ Der Fremde, der nicht ahnte, in welch' hohem Grade er die Aufmerkſamkeit dieſer beiden „Honora— tioren“ auf ſich gezogen, gab in vornehm nachläſſiger und doch freundlicher Weiſe — denn er lachte wieder- * holt — ſeinem Diener einige Befehle über die Fort— ſchaffung des Gepäcks, ſah ſich neugierig und theilneh— mend nach allen Seiten um, richtete ſich dann ſtraff And ſchlank in die Höhe und ging, den Mund noch „ immer von einem in ſeinem Ausdruck ſchwer zu be— ſchreibenden Lächeln umſpielt, mit dem Freunde aus der Halle. „Ich hab' dies Geſicht ſchon einmal geſehen“, brummte der Doctor vor ſich hin; „ſchon einmal! Aber ich kann's nicht unterbringen.“ „Curios!“ antwortete der Gerichtsrath. „Eine auffällige Erſcheinung! Hat etwas Sonderbares im Blick. Und das Lachen! Haben Sie's gehört? Wie ſa— gen die Dichter: ſo ſataniſch!“ „Ich glaube gar“, unterbrach ihn der Arzt. „Er 0 war offenbar verwundert über die Herrlichkeit unſeres Bahnhofes, und ſein luſtiges Lachen bedeutete nur: Wetter, was muß das für eine Stadt ſein, zu der dies prächtige Haus das Thor iſt!“ 19 „Nun, lieber Freund, da täuſcht Sie Ihre Men— Frenzel, Lebensräthſel I. 11 162 ſchenkenntniß! Das ift kein gewöhnlicher Menſch — der trägt ein Geheimniß mit ſich“. „Vielleicht die zukünftige Fabrik!“ Inzwiſchen hatten ſie mit den anderen Bekann⸗ ten wieder um ihren Tiſch Platz genommen; Jeder von Beiden verfocht eifrig ſeine Meinung; der Gerichts— rath, daß „etwas hinter dem Fremden ſtecke“; der Arzt, „daß er gerade ſo harmlos ſei, wie ſie Alle, die hier bei einem Glaſe Bier zuſammenſäßen, und wahr: ſcheinlich nur den einen Vorzug größeren Reichthums vor ihnen habe“. Es fand ſich im Laufe der Unter⸗ haltung, daß die Anderen den „ſeltſamen Mann“, um mit dem Rath zu ſprechen, kaum in der Menſchen⸗ woge bemerkt hatten und nicht im Stande waren, in dem Streite zu entſcheiden. Doch gewann die Mei— nung des Gerichtsrathes, weil ſie die Neugierde ſpannte und die Phantaſie in eine angenehme Bewegung ver— ſetzte, die Zuſtimmung der Mehrzahl; zwei Dinge konnte der Arzt nicht leugnen, daß der Fremde eine ſtattliche, ritterliche Erſcheinung ſei, von ſoldatiſchem Gepräge, und daß er ſelbſt bei dem erſten Anblick deſſelben zuſammengefahren. Unſerem Gedächtniſſe, wurde daraufhin behauptet, entfallen nur gleichgültige Vorfälle und unbedeutende Menſchen; wer uns je, und wäre es auch nur für wenige Minuten geweſen, einen z 163 tieferen Eindruck, ob durch ſeine Perſönlichkeit oder durch die Lage, in der wir ihn geſehen, gemacht habe, deſſen Bild bleibe in uns; die Zeit könne wohl ſeinen Farben die Friſche nehmen und ſeine Umriſſe verwi— ſchen, aber es nicht ganz aus unſerer Seele löſchen. Umſonſt verſuchte der Arzt mit ſeinen Gegengründen durchzudringen; zum Unglück für die Sache, die er vertheidigte, ſtockte er mehrmals, verwickelte ſich in ſeinen Reden und ſpielte zuletzt in bedenklicher Ver— legenheit mit ſeiner zierlichen ſilbernen Tabaksdoſe. Dieſe nur allzu verrätheriſchen Zeichen der Unſicher— heit und Beſtürzung entgingen ſeinem Gegner nicht. Triumphirend rief der Rath: „Ergeben Sie ſich, lie— ber Abel! Auch Patroklus iſt geſtorben! Ich habe Recht, es hat ſeine Bewandtniß mit dem Fremden, ſeine ei— gene Bewandtniß! Sie ſind auf das Eifrigſte mit einer Ahnung beſchäftigt, die ſeinetwegen in Ihnen aufge⸗ ſtiegen. Nichts für ungut, morgen, wenn wir an die⸗ ſem Platze ſitzen, wiſſen wir mehr, und Sie ſelbſt kehren aus der Tiefe Ihrer Erinnerungen mit einer ganz merkwürdigen Geſchichte zurück, in welcher der Freund unſeres Bürgermeiſters ſeine Rolle ſpielt.“ Dem Arzt ſchwebte eine Erwiderung auf der Zunge — ärgerlich klappte er ſeine Doſe zu, aber das ent— ſcheidende Wort kam doch nicht über ſeine Lippen. 11* 164 Freilich hatte er, nach dem Gerichtsrath, einen „Vers dacht“ in der Seele; ja, Alles wohl überlegt, war dieſer Verdacht ſchon Gewißheit — er kannte den Fremden, ſeine Jugend; doch warum das Gras ab— reißen, das über die alten Geſchichten gewachſen war? Ueber Geſchichten, die ſich zu einer Zeit zugetragen, als keiner von der ganzen Geſellſchaft — ihn, den Arzt, ausgenommen — in dieſer Stadt gelebt hatte! Wozu einen Namen nennen, der ihnen Allen fremd war, Ereigniſſe berühren, die in jeder Hinſicht der Vergangenheit angehörten? Niemand brachte es Nutzen, wie Niemand Schaden, ob er ſchwieg oder ſprach, darum hielt er ſich zu dem weißen Spruche, der Schwei— gen für Gold erklärt, und nickte nur mit zuſammen⸗ gezogenen Augenbrauen und einer ſtolzen Bewegung des Kopfes, die für die Zuſchauer ihr Komiſches hatte, dem Feinde die Kriegserklärung: „Auf morgen!“ zu. Während dieſer Forderung ohne Worte hatte einer der Herren ein ſehr einfaches Mittel angewandt, dem „Geheimniß“, das nun ſchon in dieſem Kreiſe als Glaubensartikel galt, näher zu rücken: er hatte den Kellner beauftragt, ſich bei dem Diener des Fremden, der ſich eben mit einem Gepäckträger zum Verlaſſen des Bahnhofes anſchickte, nach dem Namen ſeines Herrn zu erkundigen. So konnte er jetzt den Aufhor— . 1 4 e ö r . ²˙ u ea ei 2 — r 165 chenden die „wichtige“ Neuigkeit mittheilen, daß der Fremde ſchlichtweg Bauer hieße, aus der Landeshaupt— ſtadt käme, und „aller Wahrſcheinlichkeit nach“ ſich vierzehn Tage in der Gegend aufhalten würde. Der Kellner hatte den „Feinen“ geſpielt und wegen des Zwecks der Reiſe auf den Buſch geklopft. „Wir reiſen nur des Ver— gnügens wegen“, war die Antwort des anderen Diploma— ten in engliſcher Bedientenlivree geweſen. „Alſo, Herr Bauer, Vergnügungsreiſender!“ lachte der Doctor. „Eine tüchtige Grundlage für Ihren romantiſchen Bau, Gerichtsrath! Empfehle mich Ihnen allerſeits! Auf Wiederſehen!“ Der unerwartete Rückzug des kleinen, trotz ſeiner ſechszig Jahre noch munteren und hitzigen Mannes, der nicht leicht in einem Streite die Waffen zuerſt niederzulegen pflegte, wurde von den Freunden als Beſtätigung ſeiner Niederlage gedeutet. Er hat et: was auf dem Herzen, was er nicht geſtehen will, mein— ten Alle, und dieſe Schweigſamkeit Abel's ſchien die kühnſten Behauptungen des Gerichtsrathes hinſichtlich der „räthſelhaften Perſönlichkeit“, die unter dem Na— men Bauer zum Vergnügen reiſte, zu beſtätigen. Von den beiden Männern aber, die vor einer ge— raumen Weile den leichten, ihrer harrenden Einſpän— ner beſtiegen, hatten keinem, auf der Fahrt, die Wei⸗ 166 denallee entlang, zu dem alterthümlichen, noch von einem epheuumrankten Thurm beſchützten Stadtthor, die Ohren geklungen; wie laut und wunderlich auch das Geſchwätz der guten Schildbürger tönte, eine Wirkung in die Ferne hatte es nicht. Am wenigſten auf den Fremden, in deſſen ganzem Weſen ſich die Sicherheit eines ent— ſchloſſenen und ruhigen Willens und die Weltgewandt— heit eines weitgereiſten und in Kämpfen erprobten Mannes ausdrückte. Neben ihm erſchien der Bürger: meiſter, ſchon in ſeiner ſchmächtigeren Geſtalt, von einer gewiſſen Schüchternheit und Befangenheit; der Eine wie aus einer Idylle, der Andere wie aus einem Epos geſchnitten. „Wer uns Beide ſo fahren ſieht“, hatte Wildenhagen ſcherzend geſagt, „der hält Dich für einen neuen König Kröſus, den ich endlich glücklich eingefangen habe und dem ich nun als Cicerone die Herrlichkeiten der Stadt zeige.“ „Laß ſie doch,“ hatte der Andere erwidert. „Was wäre die Welt ohne die Philiſter und ohne die Alltäglich⸗ keit! Noch einmal, Ottokar, Dank für Deine Einla⸗ dung! Wahrhaftig, ohne Dein freundſchaftliches Drän⸗ gen hätte ich den ſtillen Winkel, den kleinſten Fleck Erde hier nicht wiedergeſehen. Und doch, welche Ge— danken erheben ſich in mir, welche Erinnerungen ſtehen vor mir auf! Luſtige, traurige, liebe und tolle! Es 167 iſt ja doch die Heimath! Und wenn wir mit der Liebe nicht ſpielen ſollen, mit der Heimath iſt der Scherz noch bedenklicher. In dem Wald nnd auf den Bergen dort drüben, welche die Wieſe begrenzen, was für Stunden hab' ich da als Knabe verlebt! Kinderſpiele und erſte Gedichte! Auf jener weit vorſpringenden Felshöhe habe ich zum erſten Mal die tragiſche Schönheit eines Sonnenuntergangs empfunden. Im Uebrigen, es iſt ſo ziemlich trotz der Thatkraft Ottokar Wildenhagen's Alles umher beim Alten geblieben. Das lob' ich mir an den kleinen Städten: man findet ſie wieder, wie man ſie vor zwanzig Jahren verlaſſen. Blos“ — und hier hatte ſeine feſte Stimme leiſe gezittert — „blos die alte nLeute nicht mehr, und auch das wird im Zuſammen— hang der Welt gut ſein.“ Wie tröſtend hatte ihm der Freund die Hand ge— drückt; eine Pauſe war eingetreten, und erſt unweit des Thores hatte Ottokar die Unterhaltung aufgenom— men. „Wenn Du hier nicht bekannter wäreſt, als ich, würde ich Dich auf jenes Haus aufmerkſam machen — dort drüben auf der Berglehne! Mit dem Reiz der Lage verbindet ſich der Zauber ſeiner Architektur, die jetzt im lichten Sonnenſchein noch einmal ſo glän— zend hervortritt. In dieſem Thal vermuthet Niemand ſolch prunkvolles Gebäude.“ 168 „Ich kenn' es wohl“, entgegnete der Reiſende. Schon eine längere Friſt hatten ſeine Blicke mit einem eigenen fragenden Ausdruck darauf geruht. Nach den Bergen hin, etwa in der Entfernung eines Flintenſchuſſes von der alten Stadtmauer, die hier noch aufrecht ſtand, erhob ſich auf einer der ſanft anſteigenden Vorhöhen mit breiter, zehnfenſtriger Front und ſpitzen Giebeln ein ſchloßähnliches Gebäude, ſtolz und grau, jetzt vom Wiederſchein der Sonne im roth— goldenen Schimmer umſpielt. Nach der Seite der Landſtraße bot es ſich frei dem Betrachter dar; von der Stadt her führte ein Buchengang zu ihm hinauf, hinter ihm dehnte ſich der Hochwald aus. Der Styl. des Ganzen war ſchwer und maſſenhaft, in dem fran⸗ zöſiſchen Geſchmack des ſiebzehnten Jahrhunderts, aber er hatte eine phantaſtiſche maleriſche Beſonderheit. Nicht nur war das Portal mit reichen Steinarabesken und Wappenſchildern geſchmückt, prangten in den Feldern über den Fenſtern im Hochrelief Gruppen muſicirender Engelsgeſtalten; auch in den tiefen Niſchen zwifchen den hohen Fenſtern des erſten Stockwerks ſtanden ftei- nerne Figuren, Götter und Göttinnen, wie auf den drei Giebeln des Hauſes die drei Tugenden: Mäßig⸗ ung, Gerechtigkeit und Tapferkeit, Alles in dem Styl des frühen Rococo, wunderlich im Ausdruck, heftig oder 169 geziert in Haltung und Bewegung, aber doch mannig— faltig und lebensvoll. Dazu in dieſer Stunde die ge— eignetſte Beleuchtung; die Fenſter wie von Gold ſchim— mernd; tiefgrün der Wald, der hinter dem Gebäude den Berg hinanklomm, die Buchen von glänzendſten Sonnenlichtern überflogen; Ottokar hatte Recht, daß dies Haus auf Jeden, der es zum erſten Mal ſah, ei— nen ebenſo überraſchenden wie gefälligen Eindruck aus— üben mußte. „Eine Zuthat hat es doch während meiner Ab— weſenheit erhalten“, ſagte der Fremde nach längerem Hinſchauen, „den Balkon vor den vier mittleren Fen— ſtern, mit der ſchweren ſteinernen Baluſtrade. Auch ſieht es von hier wohnlicher aus, als zu meiner Zeit; ein geſchickter Baumeiſter ſcheint alle Brüche und Schä— den ſäuberlich geheilt zu haben. Gehört es noch im— mer den Aldenhovens?“ „Freilich. Warum hätte auch das Fräulein, die einzige Tochter und Erbin des alten Herrn, den ſchö— nen Beſitz verkaufen ſollen?“ „Nun, ich dachte nur ſo! Merkwürdig, daß ſie nicht geheirathet hat.“ Darüber hatten ſie das Thor erreicht, und es vergingen nun nicht viel Minuten mehr, daß die Freunde in der Wohnung des Bürgermeiſters am Markt, in 170 einem geſchmackvoll eingerichteten Zimmer, deſſen Fen— ſter nach einem Garten mit einer Gruppe hochwipf— liger Platanen ſich öffneten, rauchend und plaudernd zuſammenſaßen. „An Dir iſt ein Frauenzimmer verloren gegan— gen, trotz Deines kriegeriſchen Namens, Ottokar“, lachte der Reiſende, ſich hin und her in einem amerikaniſchen Schaukelſtuhl wiegend, „ſelbſt dieſe Bequemlichkeit für meinen verwöhnten Geſchmack haſt Du nicht vergeſſen. Keine Schweſter könnte für den heimgekehrten Bruder eine rührendere Aufmerkſamkeit entwickeln.“ „Wenn wir es Dir in der kleinen Stadt nicht behaglich machen, was ſollte Dich feſthalten?“ „Deine Freundſchaft, die Heimath! In der Fremde hab' ich kaum jemals Heimweh gehabt — in den langen Jahren zwei- oder dreimal ein Zucken im Herzen, ein Et- was, das in uns aufſchreien will und doch nicht kann! Da= mit kam ich über gute und ſchlimme Empfindſamkeit hin⸗ weg. Aber es muß in dem Duft des Bodens oder in Dei— nen Cigarren liegen, ſeit ich die alten Straßen und Häuſer, die Bäume und die Höhen — jetzt guckſt Du mich an, als wollteſt Du die Züge des verlorenen Sohnes aus dem Evangelium in mir entdecken. Gieb Dir keine Mühe, denn ich bin ein harter Sünder!“ In dem tollen Jahre der deutſchen Revolution 171 hatten ſich Ottokar und Reinhard auf der Univerſität zu Heidelberg in inniger Gemeinſchaft der Empfindun— gen zuſammengefunden; ſchwärmeriſche Jünglinge, die große Dinge für ſich und das Vaterland träumten. Doch zog ſich der jüngere und ruhigere Ottokar von den ſtürmiſchen politiſchen Verhandlungen im Kreiſe der Studenten bald zurück; ihm behagte dieſe Verachtung und Verwerfung jeder Autorität ebenſowenig, wie die Luſt an dem Umſturz des Beſtehenden, die ſich unter ſeinen Genoſ— ſen lärmend kundgab; er wäre nun einmal eine ver: mittelnde Natur, die ſich beſſer für das Aufbauen als für das Zerſtören eigne, äußerte er in einer letzten Unterredung mit Reinhard, als dieſer ihn drängte, ſich mit ihm den badiſchen Republikanern anzuſchließen, die im Frühling 1849 eine neue Schilderhebung verſuch— ten. In den unglücklichen Ausgang derſelben wurde der unbedachte waghalſige Jüngling mit verwickelt; in verſchiedenen Gefechten kämpfte er in den Reihen der Aufſtändiſchen und erhielt den Nang eines Offi— ciers; mit den Geſchlagenen mußte er, ſo erzählte es das Gerücht, über die Grenze flüchten, überdies noch vom Kriegsgericht in contumaciam zum Tode verurtheilt. Lange galt er, auch dem Freunde, als Verſchollener. Erſt durch einen gemeinſamen Bekannten erfuhr Ottokar Nachrichten von Reinhard's Schickſalen. Nach manchen E72 Drangjalen und Abenteuern war es ihm gelungen, eine geachtete Stellung in einer großen Maſchinenfabrik Newyorks zu gewinnen. Ein reger, inhaltreicher und vielumfaſſender Briefwechſel zwiſchen Beiden knüpfte ſich an; während Ottokar ſich mühſam im Juſtizdienſt in die Höhe arbeitete, erwarb, wie es aus der Ferne ſchien, Reinhard mit einer gewiſſen Leichtigkeit ein be— deutendes Vermögen. Beinahe war er ganz und gar zu ’ einem Amerikaner geworden, und obgleich ſeit der Thron: beſteigung des neuen Königs eine allgemeine Amneſtie auch ihm den Weg zur Rückkehr in's Vaterland geöff⸗ net, wollte er doch ſeine zweite Heimath in der bevor: ſtehenden bangen Kriſis nicht verlaſſen. Wie die mei⸗ ſten Deutſchen in Amerika, ſchloß er ſich im Bürger: kriege gegen die Sclavenhalter den Nordſtaatlichen an; ſeine hervorragenden militäriſchen Fähigkeiten, der Er⸗ folg, der ihn begünſtigte, zeichneten ihn bald in der Maſſe aus. An der Spitze ſeines Regiments kämpfte er bis zur Einnahme Richmond's in den blutigſten Schlachten auf Virginiens Boden; immer voran und immer wie von einem unſichtbaren Schilde gedeckt. Mit dem Ausgang des Krieges war eine Leere in ſeiner Seele, eine Ermattung und Erſchöpfung ſeiner körper— lichen Kräfte eingetreten; eine längere Reife, ein Aus⸗ ſcheiden aus den bisherigen Verhältniſſen, das Athmen 173 einer andern Luft wurden ihm von den Aerzten als beſtes Heilmittel angerathen. Vielleicht thaten die Briefe Otto— kar's das Ihrige; vor Jahresfriſt war Reinhard in Hamburg gelandet. Während des Winters hatten ſich die Freunde in der Hauptſtadt wiedergeſehen, und nachdem ſie über den ſeltſamen Zufall gelacht, der den einen zum „erſten Mann und Conſul“ in der Hei— math des andern erhoben, hatte ſich Reinhard das Verſprechen abliſten laſſen, den Freund zu beſuchen Wie oft hatte er ſchon ſeitdem das leichtſinnige Wort bereut. wie oft ſeine Erfüllung hinausgeſchoben, mit welchen Vorwänden ſie ganz zu umgehen geſucht! — Alles vergeblich, kein Falke hält die Taube feſter in ſeinen Fängen, als Ottokar den Jugendfreund! Und nun lag in ſeinen Bitten ſo viel Freundſchaft und Zart— ſinn, daß Reinhard ſein Widerſtreben vor ſich ſelbſt ſchelten und verurtheilen mußte. „Ich glaube gar,“ hatte ſcherzend Ottokar geſchrieben, „Du fürchteſt Dich, hier Geſpenſtern zu begegnen.“ Dieſe hingeworfene Aeußerung berührte eine empfindliche Seite in Rein: hard's Innerem. In der That, Ottokar hatte Recht! — Wenn er die Gründe feiner Weigerung, feine Bater: ſtadt wieder zu betreten, bis zu ihrer letzten Tiefe ver— folgte, ſtieß er auf ein unerklärliches Gefühl, das der Geſpenſterfurcht zum Verwechſeln ähnlich ſah. Dies 174 empfinden und dem Freunde Schreiben: ich komme! war für Reinhard eins. In Kämpfen und Anfechtun⸗ gen aller Art hatte er gelernt, ſolchen dunklen Regun— gen nicht nachzugeben und ihnen zu widerſtehen, ehe ſie ſich unſerer Seele ganz bemächtigt haben und un⸗ ſeren Willen beeinfluſſen. So bunt und wildbewegt Reinhard's Leben ge— weſen, ſo ſtill war das Ottokar's verfloſſen. Nach der grauſamen Zertrümmerung ſeiner politiſchen Ideale, als der Strom der öffentlichen Meinung und des Staats⸗ lebens in den fünfziger Jahren ſtatt vorwärts rüd- wärts zu fluthen ſchien, hatte er ſich entſagend in die Wiſſenſchaft geflüchtet; die Anſicht war in ihm durch⸗ gedrungen, daß Fortſchritte auf dem Gebiete der Frei— heit nur zu machen und zu behaupten ſeien durch eine Erhöhung des Wohlſtandes, durch eine größere und weitere Verbreitung der Bildung. Allmählig hatte er im Staatsdienſt Gelegenheit gefunden, ſeine Grund— ſätze anzuwenden und zu verwerthen; bald hatte man ihn als gelehrten Juriſten wie als tüchtigen Ver⸗ waltungsbeamten kennen gelernt. Doch ſehnte er ſich aus dieſer beſchränkten und von oben her, wie es nicht anders ſein konnte, vielfach beſchränkten Thätig⸗ keit nach einer freieren und ſelbſtſtändigeren. Ein Zu⸗ fall führte ihn nach der Heimath des Freundes; Men⸗ ! 175 ſchen und Landſchaft gefielen ihm, er meldete ſich zu der erledigten Stelle des Bürgermeiſters und wurde mit ſeltener Einſtimmigkeit von den Vertretern der Bürgerſchaft auf dieſen Poſten berufen. Gewiß, ſeiner Unermübdlichkeit, kraftvollen Leitung und Geſchicklichkeit hatte die Stadt ihren raſchen Aufſchwung im Verkehr und Wohlſtand zu danken, der mit feinem Segen, ſei— nen Verbeſſerungen zuletzt auch die Gegner aller dieſer Aenderungen zum Schweigen gebracht; aber ebenſo gewiß war es, daß ein eigener Stern des Glücks über den Unternehmungen Ottokar's ſchwebte. Denn galt es auch nicht, Ungewöhnliches und Außerordentliches zu vollenden, jo erſchien doch in dieſen kleinen Verhält⸗ niſſen der Sieg über ſo manche Schwierigkeiten, die man für unüberwindlich auspoſaunt, um ſeine Trägheit damit zu entſchuldigen, über die ſüße Gewohnheit der Ruhe und des ſorgloſen Müſſiggangs, die man nun mit reger Arbeit und einem Leben voll höheren Werthes, aber auch drückenderer Mühen vertauſchen ſollte, als ein Großes. Und Ottokar wußte Alles zu einem guten Ende zu führen, ohne die Widerſprechenden zu erbittern und die ſeinen Plänen entgegenſtehenden Intereſſen tödtlich zu treffen. Er hatte eine leichte Hand, die Dinge anzufaſſen, und eine fein verbindliche Weiſe, mit den Anderen umzu- gehen. Eine gewiſſe Schüchternheit des Auftretens 176 bewahrte ihn vor dem Vorwurf des Herriſchen, in ihm war keine Ader von einem Diktator — und gerade dieſer Ruf war ihm, zum tiefen Erſchrecken der wacke— ren Bürger, vorangeeilt, — ſeine natürliche Verſchloſ— ſenheit gewann ihm das Vertrauen Aller und hinderte ihn ſelbſt zugleich, ſeine Pläne vor der Zeit laut werden zu laſſen. Hin und her, über Wichtiges und Nichtiges, Nahes und Fernes hatte ſich die Unterhaltung der Freunde verbreitet, leicht und ſpringend; nach einer längeren Eiſenbahnfahrt hatte Reinhard keine Luſt, tiefer Lie— gendes zu berühren und Ottokar dachte nur daran, ſeine Pflichten als Wirth beſtens zu erfüllen. „Zu meinem Glück immer noch Junggeſelle!“ klopfte ihm jetzt Reinhard, als er unvorſichtig die Aſche ſeiner Cigarre auf die Tiſchdecke hatte fallen laſſen, auf die Schulter. „Wundert mich eigentlich.“ „Warum? Ich ahme ja nur Deinem Beiſpiel nach.“ „Ein Bürgermeiſter darf kein Hageſtolz fein. Wer nigftens in meiner Vaterſtadt nicht. Ich begreife auch nicht, daß es Dir der weibliche Theil der Einwohner: ſchaft jo lange verziehen hat. Wenn ich ein Frauen⸗ zimmer wäre, beantragte ich gegen Dich ein Mißtrau— ensvotum.“ | ; a 177 „Ich fühle mich in meiner Lebensgewohnheit zu— frieden. Ungetheilt kann ich meine Kraft, meine Ge⸗ RL danken dem Gemeinweſen widmen. Eine Familie bringt mit mancher Zerſtreuung mancherlei Sorge. Glaubſt Du, daß die Mönche des Mittelalters die Barbarei ſo erfolgreich bekämpft, der Bildung ſo viele Stätten gegründet und der Armuth ſo oft Nahrung und Erquickung geboten hätten, wenn ſie kein eheloſes Leben geführt?“ „Und doch würdeſt Du einen bewunderungswür— digen Ehemann abgeben.“ „Möglich, aber ſicherlich den ſchlechteſten Bräu— tigam.“ „Darin ſind die Frauenzimmer bevorzugt; die Brautſchaft iſt der idealſte Zuſtand des Weibes. Eva hat den Apfel in der Hand, aber ſie hat noch nicht hineingebiſſen.“ Lachend war er aufgeſtanden, hatte den Stuhl beieiſeite geſchoben, einen Blick durch das offene Fenſter geworfen und ſtellte ſich dicht vor Ottokar, der, ohne ſich in der Sophaecke auch nur leiſe zu rühren, mit ſeinen braunen ruhigen Augen dem Treiben des Freun— des zuſah. Vicht war, ich bin ein Störenfried?“ ſagte Rein— hard. „Deine Schuld, warum haſt Du mich hierher gelockt!“ Frenzel, Lebensräthſel I. 12 178 „Die ich rief, die Geiſter, werd' ich nun nicht los“, u declamirte mit ſchwermüthigem Ausdruck Ottokar und rauchte ſtärker, als wollte er in dieſen bläulichen Wölk⸗ chen ſein Haupt den drohenden Schickſalsſchlägen ent⸗ ziehen. BERN Reinhard hatte die Arme übereinander gekreuzt. „Fürchte den Dämon!“ rief er. „Um mir die Langer weile zu vertreiben, werde ich Dich verheirathen. Es gibt viele reiche und ſchöne Mädchen in der Stadt, beinahe ein Dutzend. Die Auswahl iſt groß genug; eine von ihnen nimmſt Du.“ „Welche?“ ſeufzte Ottokar. „Da Du Dich ſo ge⸗ waltſam zu meinem Schutzengel aufwirfſt, kannſt Du mir auch die Laſt des Wählens erſparen.“ „Da iſt die blonde Gertrud mit den Grübchen 4 in den Wangen, die junonifche Emilie — wir nann⸗ ten fie immer Gräfin Orſina .. . Ach!“ Und er ſchlug ſich in komiſcher Verlegenheit vor die Stirne. „Da hab' ich vergeſſen, daß die Schönheiten aus meiner 3 Zeit wohl allmählig ein gewiſſes Alter erreicht haben dürften... Welch’ eine ſchreckliche Erfindung ift die Zeit!“ „Emilie und Gertrud, wo ſind ſie?“ ahmte ihm der Freund ſcherzend nach. „Das ſanfte Veilchen und 4 die königliche Roſe verblüht, verweht! Nicht nur wir, auch die Anderen werden häßlich und alt, nicht nur 179 wir, auch die Welt geht vorüber. Das iſt ein Troft, wenn es für die Nichtigkeit der Dinge einen Troſt gibt.“ „Hoffentlich ſind ſie alle unter die Haube gekom— men, die Nymphen meiner Jugend, und wohlverſorgt. Ich bin dann der leidigen Beſuche und der Erinne— rung der alten Bekanntſchaft enthoben.“ „Einen Beſuch bei einer Jugendfreundin wirſt Du doch nicht vermeiden können —“ meinte Ottokar und drehte ſeine Cigarre zwiſchen den Fingern. „Welchen?“ „Nun bei dem Fräulein Aldenhoven. Sie ...“ „Sie erwartet mich doch nicht?“ brach Reinhard ungeſtüm aus. „Das wäre!“ „Du mußt ein ſonderbares Bild von dem Fräu— lein in Deiner Erinnerung tragen, oder ſie iſt zur Zeit Eurer Bekanntſchaft anders, ganz anders geweſen.“ „Jünger und vermuthlich auch ſchöner! Aber was fällt Dir in meinen Aeußerungen über ſie auf? Daß ich ein wenig zögere, einer Dame im Alter der Bal— zac'ſchen Frauen den Jugendfreund aus ihrem achtzehn— ten Jahre vorzuführen? Daß ich erſtaunt bin, ein ſo reiches und geſcheidtes Mädchen unvermählt wiederzu— finden? — Ich denke, in der Welt, wie ſie einmal iſt, begreift ſich das.“ Er hatte die letzten Worte mit 12* 180 einer gewiſſen Heftigkeit geſprochen und ſetzte ſich jetzt wieder Ottokar gegenüber nieder, die Hände auf die Armlehnen ſeines Stuhls geſtemmt. „Ich bin im Unrecht,“ entgegnete nach einigem Beſinnen Wildenhagen; „Du kannſt meine hohe Mei⸗ nung von dem Fräulein nicht theilen; die Tugenden, die Willenskraft, das eigenthümliche Weſen, die ſie auszeichnen, ſind eben die Eigenſchaften oder, ſag' ich lieber, die Errungenſchaften eines gereifteren Alters. Errungenſchaften, man muß ſie ſich im Kampf mit den Widerwärtigkeiten und mit ſeinen Leidenſchaften erwerben.“ „Du redeſt beinahe wie ein Liebhaber,“ antwor⸗ tete Reinhard und ſchaukelte ſich ſtärker in ſeinem Stuhl. „Voll Begeiſterung ...“ „Voll Verehrung! Ich kenne Fräulein Aldenhoven erſt ſeit einigen Jahren; als ich mein Amt übernahm, hatte ſie eine größere Reiſe angetreten und iſt über Jahr und Tag in Italien fern von uns geblieben. Aber ihr Name war hier in Aller Munde; ihr Reich⸗ thum und ihre Unabhängigkeit erlaubten es ihr, ohne Mühe hilfreich und wohlthätig zu ſein, allein nicht da⸗ mit zufrieden, als ſegnende Fee zu erſcheinen und wie⸗ der zu verſchwinden, betheiligte ſie ſich auch thätig und un⸗ verdroſſen bei allen gemeinnützigen Anſtalten, in denen 181 Frauen zu wirken vermögen. Sie hat eine Mädchen— ſchule für die ärmeren Klaſſen eingerichtet, im vorjäh— rigen Kriege gegen die Dänen ein Lazareth geſtiftet, im ſchönſten Sinne des Wortes iſt ſie eine barmher— zige Schweſter.“ „Und ſo weiter!“ ſagte nachdenklich der Freund mit dem Kopfe nickend. „Ich verſtehe Dich jetzt voll— kommen. Eine vortreffliche Dame, die Dir, dem Schwär— mer für humane Zwecke, für Verbeſſerung und Er— neuerung der geſellſchaftlichen Einrichtungen, für — willſt Du es mir nicht übel nehmen? — für Seelenfreund⸗ ſchaften, noch dazu in dem romantiſchen Reiz, der ſie in ihrem herrlichen Beſitzthum umgibt, ohne Zweifel als vollendetes Ideal des Schönen und Guten erſchei— nen muß. Aber freilich, die Ottilie Altenhoven, die ich kannte, hatte ein anderes Geſicht. Das war ein ſtolzes, leidenſchaftliches und übermüthiges Mädchen. Wir ſind beide mit den trotzigen Köpfen oft hart aneinander gerathen.“ „Sieh'!“ unterbrach ihn Ottokar. „Wer mir das geſagt, ich hätte ihn ausgelacht. Wenn ich Anmuth und Würde, Hoheit und Milde in einer Geſtalt aus: prägen ſollte, ich fände kein anderes Vorbild, als Ot— tilie Aldenhoven, während Dir die Erinnerung an ſie ein Unbehagen, eine Verſtimmung zu erregen ſcheint.“ 182 „Nicht doch! In einer ſehr ernſten Stunde meines Lebens, an einem Wendepunkt meines Schickſals, hat mir das Fräulein einen Alles entſcheidenden Dienſt ge— leiſtet — einen Dienſt, der zu unverbrüchlichem Dank verpflichtet und den zugleich Geber wie Empfänger am liebſten in ewige Vergeſſenheit verſenken möchten. Ge— nug davon! Rede Du nur weiter! Du wollteſt ſagen, daß ſie mir ein freundliches Angedenken bewahrt?“ „Ja. Im Winter, in einer Geſellſchaft, kurz nach meiner Rückkehr aus der Hauptſtadt, wurde Dein Name erwähnt. In irgend einer Zeitung war der glänzende Angriff Deines Regiments auf die Schan⸗ zen der Conföderirten vor den Thoren Richmond's ge— ſchildert worden. „Ob dieſer Oberſt Bauer der Sohn unſeres ehemaligen Gerichtspräſidenten ſein mag?“ fragte der alte Doctor Abel. „Damals, Anno 49, hieß es: er wäre nach Amerika gegangen.“ Gegen meine Ge— wohnheit war ich ſo unvorſichtig, es zu beſtätigen; der Doctor ſchwieg, aber das Fräulein fing an, mich mit ihren Fragen zu beſtürmen, ſie zeigte eine ſo herzliche und ſo beſcheiden an ſich haltende Theilnahme ...“ „Daß Du ihr Alles ſagteſt, was ſie zu wiſſen wünſchte. Vielleicht haſt Du unbewußt das Klügſte gethan. Sie iſt auf meine Ankunft vorbereitet und das Wiederſehen wird zu gegenſeitigem Vergnügen verlaufen.“ 183 „Wenn man Dich ſo reden hört, ſollte man glau— ben, es hätte zwiſchen Dir und dem Fräulein die un: glückſeligſte Liebesgeſchichte geſpielt und ..“ „Du ſtockſt? Schütte den ganzen Köcher Deiner ſpöttiſchen Pfeile gegen mich aus!“ „Und es lägen keine ſechszehn Jahre zwiſchen Ge— genwart und Vergangenheit.“ „Damit richtet ſich Deine Vermuthung von ſelbſt Ich könnte ſie mir gefallen laſſen, aber das Fräulein würde Augen machen... Nein, Guter, es wird keinen Brudermord zwiſchen Ottokar und Reinhard um einer zweiten Helena willen geben. Dieſer tragiſche Stoff iſt auf der Bühne wie in der Wirklichkeit verbraucht. Ich räume Dir nicht nur ohne Gefecht das Feld — nein, ich mache den Brautwerber. Deine Seelennei— gung haſt Du ſchon verrathen, die äußeren Verhält— niſſe ſtimmen harmoniſch zuſammen . ..“ „Und Du biſt feierlich zur Hochzeit geladen,“ un— terbrach ihn unmuthig Ottokar. „Wir laſſen nun lange genug unſeren Witz gegen einander um die Wette laufen; wie wär's, wenn wir ihm einige Ruhe gönn— ten? Die Verehrung, die ich dem Fräulein widme — und ich bitte Dich, das Wort nicht in Deiner humo— riſtiſchen Weiſe auszulegen — reimt ſich nicht zu Dei— nen Anſichten, zu Deiner Meinung über ſie.“ 184 „Meiner Meinung? Ja, ich habe die höchſte von ihr, nur... Doch die Zeit mag entſcheiden, wer von uns beiden das Mädchen richtig beurtheilt hat. Eine Bemerkung geſtatte mir noch; ich bleibe nicht gern im Verdacht eines alternden Liebhabers, der die Jugend⸗ geliebte wiederfindet. Du kennſt die Heine'ſchen Verſe darüber. Nicht nur Du und ich — nein, Alle, die mit uns leben, ſind über dieſen Weltſchmerz und dieſe Jugendeſelei hinaus. Dem Jüngling ſtehen die Roſen und vielleicht auch die Dornen der Liebe ſchön, aber der Mann hat doch andere Ziele als die Eroberung eines Weiberherzens. Was zwiſchen Männern eine Ehrenſchuld, eine unbezahlte, weil im letzten Grunde unbezahlbare Ehrenſchuld iſt, weißt Du, das. 0 Und heftig von ſeinem Stuhl aufſpringend, ſchlug er auf den Tiſch. „Eine ſolche Ehrenſchuld ſchwebt zwi: ſchen mir und Ottilie Aldenhoven. Die Geſchichte zu erzählen, erläſſeſt Du mir. So, nun iſt's heraus und nichts mehr davon!« An das Fenſter tretend, warf er ſeine Cigarre hinaus und ſtarrte eine kurze Weile, mit offenen Au⸗ gen nichts ſehend, auf die Gruppe der Platanen. Dies Abwenden gewährte auch Ottokar Muße und Sammlung, Herr des erſten Eindrucks zu werden, den das unerwartete Geſtändniß und noch mehr die 185 Bewegung des Freundes auf ihn ausgeübt hatten. Daß die Sache nicht damit beendigt ſei, ſondern ihr Nach— ſpiel haben werde, fühlte er voraus, nicht ohne Ge— müthsbewegung, aber zunächſt handelte es ſich doch nur darum, den Gegenſtand des Geſpräches in Ver— geſſenheit zu bringen und das Peinliche und Aufre— gende deſſelben zu beſänftigen. Jenes Unberechenbare und für uns Unbegreifliche, das wir Zufall nennen, mußte in der drohenden Entwickelung weiter führen und helfen. Möglich war es ſogar, daß er in ſeiner grübelnden und bedächtigen Weiſe dem Ganzen eine ernſtere Wichtigkeit beimaß, als es für Reinhard hatte; als er die Schwüle im Gemach anklagte und einen Spaziergang nach dem nahen „Felſenkeller“ vorſchlug, fand er den Freund in der bereitwilligſten Stimmung dazu. Legten ſie auch den erſten Theil des Weges beinahe ſchweigſam zurück, allmählig kehrte die gute Laune Reinhard's wieder, entrunzelte ſich ſeine Stirn. Zu einem Hauſe, zu dem eine Rampe hinaufführte, an der Ecke einer Straße, zeigte er hinüber. „Dort bin ich geboren! Da hat's neben manchen tollen Streichen und fröhlichen Tagen auch einmal eine Gewitterſtunde gegeben. Etwas wie einen Kampf zwiſchen Vater und Sohn, natürlich nur mit der Zunge! In den al— ten Liedern wird's mit dem Schwert ausgetragen; 186 andere Zeiten, andere Sitten! Was der alte Mann, der mich ſo hart von ſich geſtoßen, wohl jetzt von dem ungerathenen Sohne ſagen würde? — Sei ihm die Erde leicht! Warum wiſſen wir nichts Beſſeres den Todten zu wünſchen?“ „Als ob es ein Kleines wäre, die Laſt des Ir— diſchen nicht mehr zu empfinden,“ entgegnete Ottokar. Oben auf dem „Felſenkeller“, unter ſchattigen Bäu⸗ men, heiterte ſich in anregender Geſellſchaft, bei einer Flaſche edlen Weins, das Gemüth vollends auf. Ab— ſichtlich hatte Ottokar dieſen Ort als Ziel ihres Ganges vorgeſchlagen, weil er der Sammelplatz der Reiſenden und Fremden war und von den Bürgern der Stadt weniger beſucht wurde; er hoffte ſo jedes Zuſammen⸗ treffen Reinhard's mit einem „Bekannten aus der Ver⸗ gangenheit“ und jede Anſpielung an ſie zu vermeiden. Auf der breiten Kuppe der Höhe, vor dem meitläufi- gen Wirthshauſe, ließ es ſich gut an dem warmen Abend ſitzen, im Sonnenuntergang; der Blick ſchweifte den Fluß hinunter, bis er ſich mit dieſem in die Schat— ten des Wald- und Felsthales im Nordweſten verlor. Wenn vorher in der Unterhaltung der Freunde die Vergangenheit die Hauptrolle geſpielt, ſo kam jetzt die Gegenwart zu ihrem Recht. So unfertig die Verhält⸗ niſſe im geſammten Vaterlande noch waren, eine Bej- 187 ſerung konnte Reinhard nicht leugnen; wenn er das Deutſchland, das er 1849 als Flüchtling verlaſſen, mit dem neuen verglich, das trotz ſeiner inneren Zeriſ— ſenheit durch die Beſiegung Dänemarks und die ſtolze Abweiſung fremder Einmiſchung eben einen vollgülti— gen Beweis ſeiner kriegeriſchen Tüchtigkeit abgelegt, was hatte ſich nicht Alles zum Guten gewandt! Wie mächtig war der Gedanke der Einheit aufgekeimt, wie feſt und innig hatten ſich ſchon einzelne Formen des freieren Staatslebens mit dem geſammten Daſein ver— ſchmolzen! Der lange Aufenthalt in Amerika, ſeine eigene Theilnahme an der dortigen politiſchen Enkwickelung hatten Reinhard's Anſchauungen gemäßigt und gereift, er war zurückhaltender mit ſeiner Verdammung, wär: mer in ſeiner Anerkennung geworden. Bisher hatte er noch immer ſeine Rückreiſe nach Ame⸗ rika als ſelbſtverſtändlich vorausgeſetzt, heute regte es ſich dunkel und tief in ſeinem Herzen, als hätte das Va— terland in der gefährlichen Kriſis, in dem Zwieſpalt zwiſchen Preußen und Oeſterreich, den es durchſchreiten mußte, einen Anſpruch auf jeden ſeiner Söhne. Ot— tokar, der die politiſche Unterhaltung als den beſten Blitzableiter für das in der Seele des Freundes dumpf grollende Wetter herbeigeführt, betonte dieſe Verpflich— tung um ſo lebhafter, je ſichtbarer die Wirkung ſeiner 188 Rede auf Reinhard hervortrat. In dem Erwägen des allgemeinen Schickſals vergaßen fie, was den Einzel: nen beſonders drückte. In ſolchen Stimmungen, hin und ber im eifrig: ſten Gedankenaustauſch, begaben ſie ſich auf den Heim: weg. Jenſeits der Stadt ſchimmerte ihnen von ſeinem Berge das graue phantaſtiſche Haus der Aldenhoven entgegen. Der Mond ſtand über der Landſchaft; zacte, glänzende Nebelſchleier ſtiegen von den Waldwieſen und den Flußufern auf. Jenes Traumleben, das zwi— ſchen Abenddämmerung und Nacht die Natur umfängt und den Strom des Allſeins geräuſchloſer fluthen läßt, breitete ſeine Zauber aus; ſie aber in ihrer politi⸗ ſchen Debatte merkten es nicht, für fie gab es im Au⸗ genblick weder eine M ondſcheinlandſchaft noch eine Ot— tilie Aldenhoven, nur der Staat beſchäftigte ſie. Die Stelle der religiöſen Leidenſchaft hat die politiſche eingenommen; faſt ſcheint es, als erhielte in unſeren Tagen nur durch die Betheiligung an dieſen Kämpfen das Leben eines Mannes Inhalt und Werth. Von der Höhe niederſteigend, hatten ſie die breite Fahrſtraße erreicht, die zu beiden Seiten von Pappeln und Linden eingefaßt der Stadt zueilte. Noch waren ſie nicht lange darauf fortgegan gen, als hinter ihnen der Hufſchlag von Pferden und das Rollen eines 189 Wagens vernehmbar wurde. Näherkommend übertönte das Geräuſch ihre Stimmen. Indem ſie zur Seite traten, um den Wagen vorüberzulaſſen, bog ſich eine der darin ſitzenden Damen, die ältere, daraus hervor, und den grauen Schleier, der ihr Geſicht verhüllte, ein wenig lüftend, ſagte fie grüßend: „Guten Abend, Herr Wil: denhagen! Auch auf dem Heimwege? Und immer hier hinaus, als führte zu uns drüben hin kein Pfad!“ Und indem nun der Wagen langſamer fuhr, konnte Ottokar den freundlichen Gruß erwiedern und im Vor— übergehen einige flüchtige Worte mit der Dame wech— ſeln, die jüngere war ſchweigſam, wie vorher. Reinhard hatte ſeine Schritte gemäßigt und war in einiger Entfernung hinter dem Wagen zurückgeblie— ben. Der Schleier, die Dämmerung hatten ihn das Antlitz der Dame nicht erkennen laſſen, die Stimme dagegen klang ihm bekannt, nur allzubekannt mit ihrem feſten, tiefen und reinen Ton. Sagte ihm auch das Herz nichts, ſo war doch das Ohr ihm der ſicherſte Bürge .. .. ja, es war Ottilie Aldenhoven. Aber ihre Begleiterin, dies junge Mädchen mit dem ſanften, blaſſen Geſicht, das vorhin ein Mondſtrahl geſtreift, wo⸗ her kam ſie? In welche Beziehung und Verbindung ſollte er ſie mit dem Fräulein bringen? Statt der Jugendfreun— din zog ihn die Fremde in unerklärbarer Weiſe an. 190 Da näherte ſich ihm der Freund wieder; als müſſe er die verlorene Zeit einholen, trieb der Kut⸗ ſcher ſeine Pferde zu ſchnellſtem Laufe an und der Wagen ſauſte dahin. „Das war Fräulein Aldenhoven,“ ſagte Ottokar. „Du haſt es wohl gleich errathen?“ „Ihr Antlitz ſah ich nicht, aber ich erkannte die Stimme; ſie hat nichts von ihrer Kraft und Fülle ver⸗ loren. Welch' eine Sängerin hat die Kunſt in Otti⸗ lien eingebüßt! Durch den Zufall der Geburt, der das Mädchen in einem Schloß ſtatt in einer Hütte das Licht erblicken ließ, eingebüßt! Wer war denn die junge Dame neben ihr? Eine Verwandte?“ „Im Hauſe wird ſie Fräulein Anna genannt, wahrſcheinlich iſt ſie mit der Familie verwandt, denn das Fräulein begegnet ihr wie einer jüngeren Schwe— ſter. Sie iſt erſt vor einiger Zeit aus einer Penſion in der Hauptſtadt hierher gekommen.“ „Seltſam! Und das iſt Alles, was Du weißt?“ „Ich bitte Dich, was ſoll ich mehr von einem jungen, ſchüchternen Mädchen wiſſen? Sie iſt eine zarte Schönheit, von großer Beſcheidenheit und dabei, wie ich glaube, klug und feinfühlig — richtig, ſie tanzt leidenſchaftlich, obgleich der Arzt es ihr wiederholt en . 4 ! 5 N 191 verboten hat. Ich freilich habe noch nie, wie es im Brallſal heißt, die Ehre gehabt ...“ „Du hältſt ſie für ſehr jung?“ fragte Reinhard ſcharf und ſpitz „Ich habe kein Malerauge,“ entgegnete arglos Ottokar, „und kenne mich ſchlecht in Bildern wie im Alter der Frauen aus. Aberda wir unter uns ſind und keine Beleidigung darin liegt: wenn Fräulein Aldenho— ven ſehr frühzeitig geheirathet hätte, denk ich, daß dies Mädchen, das Deine Neugierde verfolgt, vielleicht ihre Tochter ſein könnte.“ „Wenn ſie geheirathet hätte?“ ſagte Reinhard und ſah dem Freunde forſchend in's Geſicht. Der er— trug mit heiterer Gelaſſenheit den fragenden Blick und ſchien von den Gedanken, die ſich darin ausdrückten, oder beſſer, nach Reinhard's Anſicht, ausdrücken ſoll⸗ ten, ſo weit entfernt zu ſein wie der Mond von der Erde — und während Reinhard's Gedanken ihm ſelbſt plötzlich ſo dunkel und finſter vorkamen, wie die Land— ſchaft, die ſich immer tiefer in die Schatten der Nacht hüllte, glänzte Ottokar's Seele im ſtillen Glanz, wie das Geſtirn am wolkenloſen Himmel. Er fühlte, daß jede weitere Aeußerung über dieſe Dinge den Freund verletzen und die Ehre oder das Geheimniß einer Frau antaſten würde. Nie war er unzufriedener mit ſich 192 geweſen, daß er die böſen Gedanken nicht verbannen konnte; er kam ſich wie ein frecher Bube vor, der | auf das weiße Marmorbild, welches der Gegenſtand der Verehrung einer ganzen Gegend iſt, eine Handvoll Schmutz wirft. Warum? Ja, warum? grübelte er, aus Luſt der Zerſtörung und Bosheit? Oder aus der Tiefe der Empfindung, die trotz des Mangels an Be⸗ weiſen, im Widerſpruch zur Wirklichkeit, ſich ihrer Wahr⸗ heit bewußt iſt? — Nein, koſte es, was es wolle, ge— lobte er ſich, ſcheinbar und doch achtlos dem Geplau— der Ottokar's lauſchend, in dieſer Unklarheit will ich nicht lange mehr vor mir ſelbſt bleiben. Zweites Kapitel. In einer kleinen Stadt werden die geringſten Vorfälle und alltäglichſten Begebenheiten leicht zu Gegenſtänden allgemeinſter Theilnahme; je weniger man auf den Zeiger an der großen Weltuhr achtet, deſto fleißiger und ſpähender beobachtet man den Stundenweiſer in dem Leben der Einzelnen. So ſprach es ſich denn ſchon im Laufe des nächſten Vormittags von Mund zu Mund herum, daß der Gaſt des Bürgermeiſters der berühmte amerikaniſche Oberſt Reinhard Bauer und noch überdies ein Sohn der Stadt ſei, die an weltbe— kannten, diesſeits und jenſeits des Oceans gefeierten Perſönlichkeiten nicht eben reich war. Wie nach einem fruchtbaren Regen das Gras, ſo ſchoſſen nun die halb— vergeſſenen Jugendgeſchichten des Helden wieder auf. Wahres und Falſches miſchte ſich in einander, der Frenzel, Lebensräthſel I. 13 194 Kundige konnte die erſten Anſätze der Mythenbildung an einem lebenden Beiſpiel ſtudiren. Als die Geſell— ſchaft der Freunde ſich am Nachmittage wieder zuſam⸗ menfand und Jeder einen „kleinen Beitrag“ zu der Biographie und der Charakterſchilderung des Helden lieferte, feierte der Gerichtsrath einen der ſchönſten Triumphe ſeiner „Menſchenkenntniß“, unſtreitig war er der erſte Phyſiognomiker der Stadt. Jede ſeiner Behauptungen hatte die Wahrheit über das Maß der Erwartung hinaus beſtätigt. Zwar hatte die Gnade des Königs das „Verbrechen“ aus dem Leben Reinhard Bauer's fortgewiſcht, aber er hatte doch nichtsdeſto—⸗ weniger Hochverrath begangen, die Waffen gegen ſeinen Landesherrn geführt, ein Todesurtheil hatte über ihm geſchwebt. Während der Rath, ein Fana⸗ tiker der Ruhe und Ordnung, dieſe politiſche Verirr⸗ ung des Jünglings hervorhob, verweilten die Anderen, die darin läſſiger dachten, bei dem unſeligen Zwie⸗ ſpalt, den der politiſche Gegenſatz zwiſchen Vater und Sohn geriſſen, bei der Feſtigkeit und Standhaftigkeit eines Willens, der ungebeugt von dem Fluch des Vaters ſich ſelbſt treu geblieben ſei und aus einer Sturmfluth von Widerwärtigkeiten ſich nach oben ge— rettet habe. Der „rothe Republicaner“, der „verſto⸗ ßene und mißrathene Sohn“ war für alle Gutgeſinnten — — mn 2 nn a FE GE rn — - 195 in der Stadt feiner Zeit ein Greuel und Abſcheu ges geweſen; noch bei dem Tode ſeines Vaters, bei der Begräbnißfeierlichkeit, hatte der Prediger der allgemei— nen Verurtheilung Ausdruck gegeben; der Gram um ein häusliches Unglück, das ſie alle nur zu gut noch und lebendig in ihrer Erinnerung hätten, habe das Herz dieſes ſo würdigen und tugendſtrengen Mannes gebrochen; hier wäre etwas von jenem Brutus gewe— ſen, der ſeine Söhne wegen Hochverraths am Vater— lande zum Tode verdammt. In dieſer Beleuchtung war die Geſchichte geeignet, beſonders die Philologen am Tiſche zu feſſeln. Und auch die Wandlung des Windes gab Anlaß, die „leichtbewegliche Volksgunſt“ in klaſſiſchen Verſen zu citiren. So einſtimmig früher die Verwerfung geweſen, ſo einſtimmig war jetzt die Bewunderung. Vor dem glänzenden, durch Reich— thum und Ruhm ausgezeichneten Officier der amerifa- niſchen Union war der „elende Flüchtling“, der „wüſte Abenteurer“ verblaßt; ſtatt ſich ſeiner zu ſchämen, wie ſie ſo lange in ihrer Unwiſſenheit gethan, konnte die Stadt mit Recht auf einen ſolchen Sohn ſtolz ſein. Ganz und voll ſollte ſich indeſſen der Gerichtsrath ſeines Sieges nicht freuen; der Hauptgegner, der ihm geſtern ſo hitzig widerſtritten, war nicht zugegen; eine verjährte Gewohnheit brechend, fehlte Doctor Abel am 13* 196 Tiſche. Doch hieß es zu feiner Entſchuldigung, er ji Nachmittags zu dem Fräulein Aldenhoven hinausgeru— | fen worden. Wohl befand ſich der Arzt in dieſer Stunde im grauen Schloſſe, aber nicht um ſeinen Beruf zu üben, auch hatte man ihn nicht gerufen, freiwillig war er ge⸗ kommen, und dem Fräulein, das die Tageseintheilung des alten Freundes kannte, unerwartet genug. „Da iſt etwas Beſonderes vorgefallen“, hatte ſie geſagt, als der Diener ihn in den Balkonſaal führte, „ich will hoffen, ein Glückliches“ — und hatte ihm einen weich⸗ gepolſterten breiten Armſeſſel zugeſchoben. Sie trug ein graues, mit rothen Sammetſchleifen beſetztes Seiden⸗ kleid, um den ſchönen vollen Hals einen weißen Spitzen⸗ kragen, das braune dichte Haar, das an einzelnen Stellen eigenthümlich ſchon in's Graue ſchimmerte, in welligen Scheiteln, eine vornehme Erſcheinung, von ſchlanker Geſtalt, mit edlen und ruhigen Zügen, in welchen, den weichgeſchnittenen ſinnlichen Lippen und den ſtarken Augenbrauen gleichſam zum Trotz, der Ausdruck des Sinnigen vorherrſchte. Die Anmuth und Leichtigkeit ihrer Bewegungen, die Zierlichkeit ihres Wuchſes gaben ihr einen Reiz und eine Friſche der Jugend, die leicht über ihr Alter täuſchen konnten. Von den Fältchen im Geſicht und Gemüth, welche die untrüg— 197 lichſten Kennzeichen eines „Mädchens über dreißig“ zu ſein pflegen, war auch nicht die leiſeſte Spur an ihr zu entdecken. Heute vielleicht weniger als je, wo von dem heiteren Tage und der ſchimmernden Landſchaft vor den Fenſtern ihres Hauſes der Wiederſchein glänzend auf ihrem Antlitz lag. Ihr ſchien wirklich, wenigſtens zu dieſer Stunde, das „zephyrleichte“ Leben klar und ſpiegelrein dahinzufließen. Als er in ihre hellen tief— blauen Augen und auf ihre ſorglos glatte Stirn blickte, überſchlich den Doctor Bedauern und beinahe Reue, daß er gekommen, um dieſen Frieden und die— ſen Sonnenſchein durch eine, wie er glaubte, verhäng⸗ nißvolle Kunde zu ſtören. Aber wenn Einer, ſo hatte er die Pflicht, das Fräulein von der nahenden Gefahr zu unterrichten, ſie vorzubereiten und zu warnen; überdies, ſagte er ſich, gibt es ja ein leichtes und ſicheres Mittel, Allem vor— zubeugen. Können langjährige Dienſte, eine ſtets er— probte Freundſchaft die Bande des Blutes erſetzen, die doch, ſo weit wir das Innere der Natur überſehen, nur der Zufall ſchlingt, ſo mochte ſich der Doctor Abel mit Recht als ein Mitglied der Familie Aldenhoven betrach— ten. Sein Beruf hatte ihn mit den Eltern Ottiliens zuſam— mengeführt, in ſchweren Leiden hatte der Vater den Reſt ſeines Lebens unter ſeiner treuen Sorge hinge— 198 bracht; der Doctor war der tägliche Gaſt, der Berather und Tröſter des Kranken geworden. Eine Weile hatte er ſogar ſeine Wohnung im Schloſſe aufſchlagen müſſen, da ihn Aldenhoven nicht von ſeiner Seite laſſen wollte. Weniger aus Beſorgniß vor der plötzlichen Erſcheinung des Todes, denn ſein Uebel gehörte zu jenen Krank— heiten, die, durch nichts in ihrem Zerſtörungswerk auf— gehalten, mit einer grauſamen und bewunderungswür— digen Regelmäßigkeit den Leib des Menſchen unter: wühlen, aushöhlen und endlich den letzten ſchwachen Funken des Lebens mit eben ſo ſchwachem Hauche auslöſchen; als weil er aus Abel's Gegenwart und Geſpräch eine Zerſtreuung und Erfriſchung, wie aus dem heilkräftigſten Tranke ſchöpfte. Gottfried Alden⸗ hoven war in der großen Handelsſtadt an der Elbe— mündung der Theilnehmer und die eigentliche Seele eines in allen Erdtheilen bekannten Handelshauſes ge— weſen, ein geſchickter, klug die Umſtände berechnender, faſt in allen Unternehmungen glücklicher Kaufmann. Der Geſchäfte müde, kränklich, ohne einen Sohn, den er in die Geheimniſſe ſeines Standes hätte einweihen können, hatte er ſich nach dem Tode ſeines älteren als Hageſtolz geſtorbenen Bruders in das graue Schloß zurückgezogen; von hier aus war der Flug der Alden- hovens in die Höhe gegangen und ſie bewahrten dem 199 heimathlichen Boden, wohin fie das Schickſal auch ver- ſchlagen, eine unverbrüchliche Treue. Das zeigte ſich mehr noch als bei dem Vater bei der Tochter. Wäh— rend die Mutter nur zögernd in die Aenderung ihres Wohnſitzes eingewilligt, nur mit ſtillem Verdruß die volksbelebte buntſchillernde Handelsſtadt mit dem ein— ſamen Schloſſe und dem kleinen „Landſtädtchen“, wie ſie achſelzuckend ſagte, vertauſcht hatte und dem Arzt gegenüber gern auf das „ungeheure Opfer“ zurückkam, das ſie ihrem Gatten damit gebracht, war Ottilie vom Tage ihres Eintritts in das ehrwürdige Haus und Familienerbe wie verwachſen mit ihm. Als hätte ſie niemals an einem andern Orte, als in dieſen Gemä— chern und Corridoren, auf dieſen Wieſen, in dieſem Park gelebt! Die Friſche der Luft, das fröhliche Um— herſtreifen auf den Höhen und im Walde, die größere Freiheit und Bewegung thaten dem jungen, ſchwäch— lichen Mädchen wohl. Sie wurde ſtark, kräftig und ſchön. Schon früh hatte ſie gelernt die Herrſchaft zu üben; in ihrem ſechszehnten Jahre verlor ſie die Mutter und ſah ſich, durch die Krankheit und die zunehmende Grämlichkeit und Abneigung des Vaters gegen alle Geſchäfte, an der Spitze eines großen Haushaltes. In ſolcher Lage konnte es an Gelegenheiten nicht fehlen, wo dem jungen Mädchen männlicher Rath und männ— 200 liche Thatkraft wünſchenswerth, ja in verwickelteren Dingen ſogar nothwendig wurden. Es war natürlich, daß ſie ihre Zuflucht zu dem Freunde des Vaters nahm, erſt zaghaft und zurückhaltend, allmählig ver— trauender und zwangloſer. So wurde der Doctor, ohne daß er es gewollt oder dieſe enge Verbindung geſucht, in alle Geheimniſſe der Familie eingeweiht. Weder der Vater, noch die Tochter ſollten je ihre Wahl bereuen; in jedem Sinne war und blieb der Arzt der Freund des Hauſes; nie wurde das unbe— grenzte Vertrauen, das ſie in ihn geſetzt, auch nur im kleinſten Punkte getäuſcht, ſo gut und noch beſſer als die eigenen verwaltete Abel die Angelegenheiten Alden— hovens. | Dies ſchöne Verhältniß überdauerte den Tod des alten Herrn. Halb im Scherz, halb im Ernſt hieß es damals in der Stadt: wenn ſich das Fräulein je zu einer Heirath entſchließen könnte — ſie hatte ſchon damals, noch in ihren Blüthejahren, den Ruf einer Feindin der Ehe — Niemand anders als den kleinen Doctor Abel würde ſie heirathen. In Wirklichkeit waren freilich die Gedanken Ottilien's wie die Abel's gleich weit von einer ſolchen Thorheit entfernt; Beide ſchienen, trotz der großen Verſchiedenheit ihres Alters, auch darin übereinzuſtimmen, daß ſie die perſönliche 201 Freiheit und Unabhängigkeit über Alles ſchätzten. Selbſt die Grundfarbe ihrer Freundſchaft änderte ſich nicht im Laufe der Zeit; von Ottiliens Seite zärtliche An— hänglichkeit und Treue, von der ſeinigen die feſte und ſorgende Theilnahme eines Mannes, der wie ein Vater liebt und dabei doch nie vergißt, daß er nicht die Rechte eines Vaters hat. Mit liebenswürdiger Geſchäftigkeit bemühte ſich das Fräulein auch heute um ihn; ſie hatte das Fen— ſter geſchloſſen — denn der furchtloſe Doctor fürchtete eins: die Zugluft — ihm ein Glas ſeines Lieblings— weins eingeſchenkt, in harmloſer Neckerei ihn geſchol— ten, daß er ſeine Freunde heute verſäume und Stoff zu allerlei Nachrede geben werde; ſo ruhig, ſtill und heiter befriedigt in ſich, daß Abel ſich mit der Neuig— keit, die ihm auf dem Herzen brannte, in ſeinen Ge— danken mit einem ſchändlichen Friedensbrecher verglich, der, ohne Krieg anzuſagen, in das Gebiet ſeines Nach— bars fällt und blühende Stätten in rauchende Ruinen verwandelt. Zum erſten Mal empfand er die dämo— niſche Gewalt eines einzigen Wortes in ihrer ganzen Schrecklichkeit. Vergebens ſann er hin und her, der Kunde, die er bringen mußte, einen Deckmantel umzu— hängen; verſuchte umſonſt, ſie mehr ahnen zu laſſen, als ſelbſt auszuſprechen. Ottilie verſtand weder ſeine 202 Feinheit, noch ſeine Schonung; ihr ſonſt jo ſcharfer Blick mußte an dem heutigen Tage beſonders trübe ſein; das Bild, daß er ihr durch einen durchſichtigen Schleier zeigte — durchſichtig nach ſeiner Meinung — blieb ihr ſo dicht verhüllt, als es das Götterbild der Iſis im Tempel zu Sais jemals geweſen war. Dafür entdeckte ſie um ſo ſicherer ſeine Befangenheit und fing an, ihn mit ihren Fragen immer mehr in die Enge zu treiben. Einmal auf dem Rückzuge, fühlte Abel, daß er verloren ſei, daß ihm ſein Geheimniß im ungünſtigſten Augenblick entſchlüpfen werde, wenn er der Gegnerin nicht plötzlich Stand hielte und ſie durch einen kühnen Angriff zurückſchlüge. Das Glück war ihm günſtig; Ottilie erwähnte beiläufig, daß ſie am geſtrigen Abend, von einer Spazierfahrt heimkeh— rend, dem Bürgermeiſter begegnet ſei. „Darum war ich mir heute eher ſeines, als Ihres Beſuches gewär— tig“, ſetzte ſie in herausfordernder Schelmerei hinzu. Dies iſt die Brücke der Bereſina für Dich, dachte der Arzt und ſtrich mit dem weißſeidenen Taſchentuch über die Stirne. Muthig hinüber! „Dem Bürger: meiſter begegnet?“ huſtete er. „Ei, ei! Allein?“ „Was fällt Ihnen ein, Doctor!“ lachte Ottilie. „Ich allein am Spätabend, im Dämmerlichte des Vollmonds, mit Herrn Wildenhagen? Beſter Freund, 203 halten Sie mich für jo leichtſinnig? Nein, das Kind war mit mir.“ „Ach!“ brummte Abel. „Es handelt ſich auch nicht um Sie oder Fräulein Anna! Kümmert mich gar nicht, ob Sie den Bürgermeiſter zu Ihrem Endymion gewählt haben! Ich bin nicht eiferſüchtig, nicht ſo viel!“ Und dabei blies er ein Stäubchen von ſeinem Rockärmel. „Wünſchte nur zu wiſſen, ob Herr Wil— denhagen allein war?“ Nicht die Frage, der Ton, in dem er ſie that, machte das Fräulein ſtutzen. Bisher war das Ge— ſpräch ein luſtiges Kreuzfeuer von Scherzen geweſen — ſie liebte es, ihre „beiden unvergleichlichen Vereh— rer“, den Doctor und den Bürgermeiſter, den einen mit dem andern zu necken — lauerte ein ernſthafter Blitz dahinter? „Nein,“ entgegnete ſie, „Herr Wildenhagen war nicht allein, aber ich habe den Herrn, der mit ihm ging, nicht erkannt, er blieb im Schatten, unter den Bäumen des Weges.“ „Im Schatten ein Schatten! Und ſtieg keine Ahnung bei ſeinem Anblick in Ihnen auf?“ „Eine Ahnung?“ Forſchend hielt Ottilie ihre blauen Augen, die noch einmal fo hell und ſtrahlend als ge— wöhnlich ſchimmerten, auf den alten Freund gerichtet, 204 der weislich ſein Geficht zur Hälfte hinter dem Ta: ſchentuche verbarg. „Sollte es,“ — ſie ſtockte, um ihre Lippen zuckte es ein wenig. „Ja! ja!“ meinte der Doctor und wehte ſich lei— denſchaftlich Kühlung zu. „Alſo Reinhard — Reinhard Bat war der Begleiter Wildenhagen's“, ſagte mit einer Ruhe, die ihren Eindruck auf den Arzt nicht verfehlte, das Fräu- lein. „Nach Allem, was geſchehen“ — und hier war es, als zöge ſich ein feiner roſiger Schleier über ihr Antlitz — „wird die erſte Stunde des Wiederſehens zwiſchen ihm und mir ihr Peinliches haben; dann aber . . . ja, Wertheſter, warum ſollte ich es Ihnen nicht geſtehen? ... mich wird es auf das Innigſte freuen, dem Jugendfreund in Allem und Ah Alles verſöhnt die Hand zu reichen!“ Trotz der Feinheit und Geiſtesgegenwart, die ihm Alle nachrühmten, konnte Abel ſein Erſtaunen nicht bemeiſtern. Zu entſchieden ging Ottiliens Aeußerung gegen ſeine Vermuthungen, Anſichten und Pläne vor. „Es iſt alſo doch wahr“, ſagte er zwiſchen Spott und Klage, „die Freundſchaft erräth niemals die ganze Tiefe eines Frauenherzens! Sie wünſchen jetzt die Begegnung, die Ihnen noch vor Kurzem beinahe un— möglich erſchien.“ 205 „Und wenn ich Ihnen mit dem Sprüchwort ant- wortete: Guter Rath kommt über Nacht? Aber, wie ſollte Ihre Ottilie“ — und ſie reichte ihm die Hand — „Ihnen die Gründe verbergen, die ihren Entſchluß beſtimmen? Als ich die erſte Nachricht von der An— weſenheit Reinhard's in unſerer Hauptſtadt vernahm, habe ich meine Theilnahme an ſeinem Schickſal nicht verleugnet, im Gegentheil, nach Ihrer Meinung, viel zu lebhaft gezeigt. Mein kluger Kopf iſt eben nur Ihre Dichtung, lieber Freund, ein leidenſchaftliches Gefühl hat noch immer leichtes, nur allzu leichtes Spiel mit ihm. Dieſe Beſorgniß ließ mich damals ein Zuſammentreffen mit Reinhard fürchten; ſeitdem habe ich mich an den Gedanken des Wiederſehens ge— wöhnt und ihn wie unter einem Ihrer Vergrößerungs— gläſer betrachtet. Wie Sie wiſſen, ſtecke ich voll Aber— glauben. Führt ihn Dir das Geſchick wieder entgegen, habe ich mir zuletzt geſagt, ſo wirſt Du ihm nicht ausweichen, wie eine Zornige oder eine Schuldige, ſondern ihn empfangen, wie es Dir das Herz gebietet, als Freundin den Freund!“ „Vortrefflich, ganz Ihrer ſchönen Seele gemäß! Nur haben Sie eins vergeſſen, daß es nicht bei Hände— drücken und mehr oder weniger aufrichtigen Freund— ſchaftsverſicherungen bleiben wird. Ich erkenne in der 206 That meine kluge Ottilie nicht wieder. Wenn Einem eine Kugel im Leibe ſteckt, wie bringen wir ſie heraus? Durch Schneiden, Schneiden! Operation heißt es in der Medicin, Auseinanderſetzung bei Herzenswunden! Und das ſoll hier nicht ſein! Wofür bin ich Ihr Arzt? Ich will nicht, daß Sie ſich ſolchen Erſchütterungen hingeben, aus einer ſentimentalen Grille hingeben — ja, ja! ſentimentalen Grille!“ „Nun fange ich doch an zu glauben, daß die Freundſchaft eiferſüchtiger ſein kann, als die Liebe. Ihre Freundſchaft zumal! Was malen Sie ſich über: treibend aus! Als hätten Reinhard und ich nichts Eiligeres zu thun, als die erloſchenen Kohlen wieder anzublaſen .. . erloſchen, zu ſeinem und meinem Glück ſeit ſechszehn Jahren! Gibt es außer dem einen Bande, das für immer zerriſſen iſt, nicht hundert andere Fäden, die uns verknüpfen? Gerade, wenn ich es vermeiden würde, mit ihm zuſammenzutreffen, riefe ich Werde und Argwohn wieder wach.“ „Und wenn Sie heute, morgen in der Frühe ver⸗ reiſten? Wofür haben Sie die Eiſenbahn vor Ihrer Thüre? Sie zucken mit den Wimpern? Oho, ich ſchlage Ihnen keine Flucht vor.“ „Nein, nur einen Rückzug vor der Schlacht! Sehen Sie mich feſt an, bin ich denn eine jo räthſel⸗ 207 hafte Sphinx? Ich habe Ihnen damals gejagt, ich wiederhole es Ihnen heute: ich habe Reinhard nicht geliebt und weiß, daß er mich ebenſo wenig geliebt hat. Sie ſchütteln mit dem Kopfe? Iſt denn keine Wahr— heit in meinen Worten?“ „Selbſttäuſchung iſt darin!“ brummte der Arzt. „Die Sphinx iſt ſich ſelbſt ein Räthſel. Im Uebrigen beſcheide ich mich; Ihre Augen ſtrahlen das gewiſſe Gefunkel aus, dem ich nicht gerne widerſtehe. Doch werden Sie mich darum nicht los, ich werde Sie auf Tritt und Schritt bewachen, bis dieſer Herr Bauer das Feld geräumt hat. Löſ't er aber als Oedi— pus Ihr Räthſel und Sie müſſen ſich in den Ab— grund ſtürzen, wie es einer rechtſchaffenen Sphinx ge— r „So ſchreiben Sie in Ihr Tagebuch: Ottilie ohne Beihülfe der Medicin als Ketzerin geſtorben.“ „Ich gebe Sie auf, ganz auf! Hat man ſolchen Trotz erlebt! Aesculap'sLeugnerin! Indeſſen die Ju— gend werden Sie nicht mit ſich in's Verderben reißen wol— len“ — ſeine Stimme verſuchte ſich in den ſanfte— ſten Schmeicheltönen — „laſſen Sie mich das Kind retten.“ Welche Aeußerungen auch bisher im Verlauf des Geſprächs gefallen waren, Ottiliens heitere und klare 208 Ruhe hatte ſich nicht einen Augenblick getrübt. Erft die Erwähnung des „Kindes“ brachte eine Verände⸗ rung ihres Geſichtsausdrucks hervor. Ein finſterer Zug erſchien in ihren Mienen und, mit der Hand abwehrend, ſagte ſie: „Verſteh' ich Sie recht? Ich ſoll Anna aus dem Schloſſe entfernen?“ EN „Für einige Tage! Bis Alles wieder in's rechte Geleiſe gekommen, oder bis ich das Kind vorbereitet...” Ehe er es hindern konnte, hatte ſie ſich zu ihm herabgeneigt und drückte ihre Lippen auf ſeine Rechte. „Sie meinen es gut! In Ihnen iſt ein ſo unbegrenz⸗ tes Wohlwollen für mich, ſo grenzenlos wie eines Vaters Liebe! Aber Anna bleibt bei mir, ſie gehört hierher.“ Hatte ihre Stimme bei ihren erſten Worten wie von einem mühſam unterdrückten Schluchzen ge⸗ bebt, bei ihren letzten hatte ſie ihre Kraft und Fülle, wie die Sprecherin die Herrſchaft über ihr Gemüth, wiedergewonnen. Wenn in der Luft nun auch noch etwas Aengſt⸗ liches und Schwüles Beide umſchwebte, ſo machte doch der Eintritt des Dieners, der Herrn Ottokar Wilden⸗ hagen meldete, der Verlegenheit und dem Stillſchwei⸗ gen, die nach Ottiliens beſtimmter Erklärung einzu⸗ treten drohten, ein ſchnelles Ende. Der Doctor wollte in einem vielſagenden Blick = 5 2 u 25 . j 209 3 der Freundin Alles mittheilen, was er über den Be— ſuch Wildenhagen's dachte, in welcher unmittelbaren Verbindung derſelbe mit dem Kern ihrer Unterhaltung ſtände, allein Ottilie hatte kaum die Zeit, dieſen Blick aufzufangen, noch weniger, ihn verſtändnißinnig zu erwidern; ſchon nahte ſich ihr, liebenswürdig und beſcheiden, wie immer, der Bürgermeiſter. Vielleicht würde Reinhard, wenn er die Beiden bei dieſer ge— genſeitigen Begrüßung geſehen, den Wunſch, ſie zu verheirathen, aus ſatyriſcher Bosheit noch einmal ſo laut ausgeſprochen haben. Der gute, geſchmeidige Ot— tokar ſchaute mit einer Verehrung zu dem ſchönen Fräulein auf, als ob ſie in Wahrheit die Königin des Olymps wäre, an deren Verkörperung in Marmor — wir nennen ſie die Juno Ludoviſi — Ottiliens Ant— liUtz von ungefähr erinnerte; jo ganz ſpielte er die zweite Rolle, daß für ein eheliches Concert ihm nicht übrig geblieben wäre, als unter verſchlechterten Um⸗ ſtänden darin fortzufahren. Von einem anderen Stand— punkt aus betrachtete ihn Abel; Wildenhagen war in dieſer Stunde für ihn nichts als der Abgeſandte jenes böſen Feindes, der ſo unerwartet gekommen, den Frie— den und das Lebensglück ſeiner Freundin zu zerſtören. Uebellaunig lauerte er auf jedes Wort und jede Be— wegung des unſchuldigen Ottokar, die denſelben in Frenzel, Lebensräthſel I. 14 210 ſeiner ganzen Häßlichkeit als „Spion“ entlarven könnten. Ohne zu ahnen, welch' mißgünſtigen Beobachter er in dem Doctor an ſeiner Seite hatte, gab der Bedrohte indeſſen, in glücklicher Unbewußtheit, eine Probe ſeiner vollendeten diplomatiſchen Kunſt. Von den nichtigſten Dingen anhebend, belebte ſich allmählig das Geſpräch, eine Anregung erzeugte eine andere, dieſer Ton weckte jenes Echo, und gerade der Doctor, der ſich bei Wil— denhagen's Eintritt gelobt, ſchweigend zu beobachten, wie ein vorgeſchobener Poſten auf der Wache im Feld— lager, fand ſich von ſeinem Eifer fortgeriſſen, von der Feinheit des Gegners umgarnt, plötzlich im Mit⸗ telpunkt der Unterhaltung, bei einer Stelle, wo ihm der Name Reinhard Bauer entſchlüpfte. Der kleine Mann wurde rothbraun vor Zorn, als ihm darauf hin Ottokar mit der verbindlichſten Höflichkeit, als theile er ihm eine Neuigkeit mit, berich⸗ tete, daß der Oberſt ſeit geſtern in der Stadt weile und eine ſeiner erſten Fragen geweſen: lebt unſer Doctor Abel noch? Damit war das Eis gebrochen und Wildenhagen offenbar dem geheimen Zweck ſeines Beſuchs, den ihm der Doctor nun einmal unterſchob, die Geſinnungen des Fräuleins in Betreff ſeines Freun⸗ des zu erkunden, näher gerückt. Doch blieb Ottilie kühler und zurückhaltender, als Abel es zu hoffen ge— 211 wagt; nur konnte fie nicht umhin, auf eine andeu- tende Frage Ottokar's höflich zu antworten, daß es ihr ein Vergnügen ſein werde, einen ſo berühmten Landsmann in ihrem Hauſe zu ſehen. Indeß lockte der ſonnige Spätnachmittag in das Freie, und das Fräulein ſchlug ihren Gäſten einen Gang in den Garten vor, dort würden ſie auch Anna treffen, die ſich ſeit einigen Tagen mit einer Naturſtudie mühe; der alte Thurm am Ausgange des Gartens nach dem Walde zu habe es dem Kinde angethan, und ſie wolle nicht nachlaſſen, bis ſie ihn in ihr Skizzenbuch eingetra— gen. Die Erwähnung des Thurmes erregte dem Doc— tor wahres Herzeleid; es ſei eine Schande, daß dieß geſchmackloſe Mauerwerk für Krähen und Dohlen, Rat: ten und Mäuſe noch immer den zierlichen Garten ent— ſtelle, längſt hätte die Beſitzerin es ſollen abbrechen laſſen, aber die Vernunft der Frauen ſei ein eigenes Ding, ehe es nicht ein Unglück gegeben und irgend ein Unvorſichtiger ſich den Hals darin gebrochen, werde die Ruine nicht abgetragen werden; den Brunnen deckt man zu, wenn das Kind hineingefallen. Statt jeder Antwort begnügte ſich Ottilie mit einem halb mitleidigen, halb mißbilligenden Lächeln, und als ſei es an dieſer Strafe für den vorlauten Freund noch nicht genug, nahm ſie Ottokar's Arm. 14* 212 Hinter dem Haufe lagen zunächſt einige kreisrunde Raſenplätze mit Figuren und Vaſen von Sandſtein verziert, welche längſt im Sturm und Regen der Jahre verwittert, dazwiſchen neuere Blumenanlagen und an der Mauer ſich entlang ziehend ein von wildem Wein umrankter ſchattiger Gang. Dahinter ſtieg der Gar- ten allmählig faſt terraſſenartig zu dem Walde auf der Spitze des Berges an. Mit ſeinen ſtolzen Tan⸗ nen und Fichten, ſeinen knorrigen Eichen und breit— äſtigen Buchen war dieſer Theil der ganzen Anlage der ſchönſte und maleriſchſte, und je weiter man nach oben hin kam, durch das Aufhören jedes wohlgepfleg— ten Pfades, durch dicht verwachſenes Gebüſch, auch der wildeſte. Offenbar hatte es der Gärtner aufgege⸗ ben, überall auf dieſem weiten, von der Mauer einge— ſchloſſenen Raum die Natur zu zügeln und in die Zucht der Kunſt zu nehmen, er hatte es vorgezogen, ſich zu beſchränken, um in dem Umkreiſe des Hauſes deſto ſchönere und reizvollere landſchaftliche Schönheiten zu ſchaffen. In jenem einſamen und verlaſſenen Theil des Gartens nun, hart wo er den Wald berührte, erhob ſich das wunderliche Gebäude, das die Bewohner des Hauſes den alten Thurm nannten. Wie ein Wart⸗ thurm mit ſeiner Plattform und Mauerzinnen ragte K. Er Am Dan. a nd ala ya er a 213 es über der Mauer hervor, nur war jetzt ſchwer zu ſagen, zu welchem Zweck es eigentlich gedient habe. Zum Schutz und Trutz hatte es der Erbauer, der Groß— vater der jetzigen Beſitzerin, ſchwerlich aufführen laſſen und, wenn es einen Aufsſichtspunkt abgeben ſollte, die Stelle ſchlecht gewählt. Wohl mochten in den ſieben— zig Jahren, die der Thurm ſchon zählte, die Bäume umher dichter und ſtattlicher aufgewachſen, der Weg, der damals in breiter Lichtung von dem Fuß des Thurmes durch den Wald geſchlagen worden war, wie— der bepflanzt worden ſein, jedenfalls war auch in je— nen Tagen nur eine ſehr beſchränkte Rund- und Aus: ſchau von der Warte möglich geweſen. Jetzt hatte der Thurm kein beſſeres Recht, noch immer aufrecht auf ſeinem Platz zu ſtehen, als das der Verjährung und Gewohnheit. Es ließ ſich nicht einmal zu ſeinem Gunſten einwenden, daß er in ſeiner Ruinenhaftigkeit der Gegend einen romantiſchen Zug verleihe. Dazu ſah er, trotz ſeiner eingeſtürzten Zinnen, ſeiner roſtigen Eiſenthüre, der blinden Fenſterſcheiben, in den drei Gemä— chern, die er enthielt, und der ſchmalen ausgetretenen Wendeltreppe, die auf das Dach führte, wieder zu zop— fig aus. Mancherlei Vorſchläge, ihn durch ein gefäl— ligeres Gartenhaus zu erſetzen und durch Niederſchla— gen der ihn umdrängenden Bäume Raum und Licht 214 zu Schaffen, hatte man dem Fräulein gemacht, ohne ſie dafür zu gewinnen. „Mir käme es wie eine Entwei⸗ hung vor, wenn ich das alte Gemäuer zerſtörte“, ſagte ſie. „Ich habe als Kind luſtig und toll darin geſpielt, es iſt mir werth und theuer, ich ändere nichts daran. Mögen Zeit und Schickſal mit ihm verfahren, wie's ihnen beliebt, mich dünkt, auch für einen morſchen Thurm iſt es ſchöner, ſo mächtigen Gegnern als der Laune eines Weibes zu erliegen.“ Und daß bei all' ſeiner Häßlichkeit und ſeinem melancholiſchen Düſter das verfallene Gebäude wenig— ſtens für die Jugend einen beſonderen Reiz haben müſſe, bewies „das Kind“. Am liebſten lenkte Anna hierher ihre Schritte, ſcheu und verzagt im Verkehr mit Men⸗ ſchen, fühlte ſie ſich in dieſer Einſamkeit, unter dem altmodiſchen ſchadhaften Hausrath drinnen, unter den Tannen draußen heimiſch und glücklich. In dem ſtatt⸗ lichen Wohnhauſe wurde es ihr oft unheimlich zu Muthe, ein peinigendes Gefühl, deſſen Quelle ſie nicht entdecken konnte, daß ſie nicht in dieſe reich geſchmück⸗ ten Gemächer paſſe, trieb ſie in den Wald hinaus. Vielleicht hatte Ottilie einen Fehler begangen, die Waiſe vor der Zeit aus der Penſion in der Haupt⸗ ſtadt, in der fie erzogen wurde, zu ſich zu rufen; Anna war zu jung, um ſich rückhaltlos der älteren Freundin 215 anzuſchließen und in dieſem Umgang raſch die Einbuße zu verſchmerzen, die ſie durch ihre unerwartete Tren— nung von ihren Mitſchülerinnen und Jugendgefährtin— nen erlitten. In ſolchem Herzensleiden einer erwa— chenden Jungfräulichkeit gewährt die Natur Troſt und Heilung. Arfangs hatten Anna's Spaziergänge nach dem Thurm keinen anderen Zweck, als den, dort un— geſtört zu träumen und Schattenbildern nachzuhängen. Eine ſcherzhafte Frage Ottiliens, welche Geiſter ſie denn in der Wildniß beſchwöre? ſtörte ſie aus dieſem Müßig— gang der Phantaſie; nach einigem Zögern begann ſie die Ruine zu zeichnen. Je weiter ſie vorrückte, deſto feſter hielt ſie die Arbeit und bot ihr noch überdies den Vortheil, ohne der Neugier Rede ſtehen zu müſſen, an dem geliebten Ort nach Gefallen weilen zu können. So hatte ſie auch heute, zur Stunde, in der Doc— tor Abel das Haus betrat, ihren gewohnten Platz, eine ſteinerne moosüberwachſene Bank dem Thurm gegen— über, eingenommen. Das Skizzenbuch ruhte auf ihren Knieen; den Strohhut mit den blauen Bändern hatte ſie auf den Zweig einer Tanne, die wie ein ſchützen— der Rieſe hinter der Bank ſchlank und ſtill in ihrem tiefgrünen Schmucke ſtand, aufgehängt; ein leiſer Wind— hauch ſpielte mit ihrem leicht gelockten blonden Haar. Eine Weile hatte ſie unthätig dageſeſſen, dem Flattern 216 der Vögel hin und her und den luſtigen Sprüngen eines Eichhörnchens zugeſchaut. Ein verlorener Son: nenſtrahl irrte hin und wieder durch das Walddickicht und ſtreifte die Zinnen des Gemäuers. In der Sons: nenwärme ein geheimnißvolles, thätiges und doch faſt geräuſchloſes Allleben, das ſeine ſanft beſtrickende Ge— walt auch auf das Mädchen ausübte. Beinahe wäre der Stift ihrer Hand entfallen. Um ſich munter zu er⸗ halten, fing ſie an, ein Liedchen vor ſich hin zu ſum— men, leiſe nur, um den Frieden, der ſie ſo feierlich umſchwebte, nicht zu ſtören. Dabei zeichnete ſie auf das Eifrigſte, als müßte ſie die frühere Verſäumniß wieder einbringen. Nur zuweilen blickte ſie von ihrer Arbeit zu dem Thurm hinüber und bemerkte, in ihre Aufgabe vertieft, den Mann nicht, der ſchon eine Weile ihr über die Mauer hinweg zuſah. Er war durch den Wald gekommen und ſtand, den Arm auf die an dieſer Stelle ſtark zerfallene und zerbröckelnde Mauer geſtützt, ſchweigend in dem Anblick des Mäd— chens verloren. Ihr Geſicht konnte er nicht ſehen, ſie hielt es auf ihr Blatt hinabgebeugt, und die zwiſchen der Bank und der Mauer aufragenden Bäume deckten ſie überdies vor ſeinen forſchenden Blicken. Auch mochte ihn, nach der erſten Ueberraſchung, hier, wo er ver: muthlich Niemand erwartet hatte, eine zeichnende 217 Dame zu finden, der Thurm ebenſo ſehr, wenn nicht noch lebhafter anziehen, als ſie. Wie einer, der jeden Stein daran kannte und mitleidig den Spuren der verwüſtenden Zeit in dem alten Bauwerk nach— ging, als berührte ihn die zerſprungene Scheibe, die geſunkene Zinne, die roſtige Thüre ſchmerzlich wie ebenſo viele Narben und Runzeln im Geſicht eines lange nicht geſehenen Freundes, betrachtete er die Ruine. War es nun eine zufällige Bewegung An— na's, um eine Fliege zu verſcheuchen, die ſie um— ſchwirrte, oder ein Geräuſch des Fremden, das zu dem Ohr des Mädchens drang — ſie wandte ſich um und erblickte zuſammenſchreckend den jenſeits der Mauer ſte— henden Mann. Die ſcheu auf ihn gerichteten Augen, das wech— ſelnde Erröthen und Erbleichen Anna's gaben dem Fremden das Bewußtſein ſeiner Lage wieder; die Er— innerungen, die der Thurm und die Bäume umher in ihm erweckt haben mochten, verflogen, die Gegenwart drängte ſich ihm unmittelbar und unwiderſtehlich auf. „Verzeihung, mein Fräulein“, ſagte er mit höf— lichem Gruße, „daß ich Sie wider Willen erſchreckt habe. So in Gedanken und für mich hin — Sie wiſſen das aus Ihrem Goethe und Ihrem jungen Her— zen beſſer als ich — kam ich durch den Wald daher 218 und blieb im Angeſicht des Thurmes ſtehen. Sie zeich- nen den alten Geſellen? Darf ich mir einen Blick auf Ihre Skizze erlauben?“ „Mein Herr!“ ſtammelte Anna und erhob ſich von der Bank. Ihre erſte Empfindung war, davon— zueilen, aber ihr Mädchenſtolz hielt ſie feſt. Was hätte der Fremde von ihr denken müſſen? War ſie nicht in ihrem Recht auf dieſer Stelle? Es galt, flüſterte ſie ſich ſelber Muth ein, ſeiner kecken Aufdringlichkeit mit Würde entgegenzutreten. „Sie finden meine Bitte zu kühn? Sie geſchieht nur aus Künſtlereiferſucht. Als ich ſo jung war, wie Sie, habe ich mich auch Tag um Tag bemüht, den Thurm getreulich abzuconterfeien — Ihnen will ich es gerne geſtehen, ohne Erfolg.“ „Sie, mein Herr?“ Nun gerieth der Vorſatz, dem fremden Manne mit jener kühl ablehnenden Würde, in der, nach Anna's Meinung, Ottilie eine ſo große Meiſterin war, zu begegnen, in die Brüche; in dem kindlichen Gemüth überwog die Neugierde jedes andere Gefühl, ein Zug geheimer Theilnahme führte ſie dem Fremden, faſt ohne daß ſie es merkte, entgegen. „Sie haben den Thurm gezeichnet?“ wiederholte ſie, ihre Locken ſchüttelnd. „Ja, ſind Sie denn aus dieſer Gegend?“ „Ja, mein Fräulein, und da ich hoffe, daß auch 219 Sie auf dieſem Boden geboren find, habe ich das Recht und das Glück, Sie in jedem Sinne als meine Landsmännin begrüßen zu können und zu dürfen. Deshalb geſtatten Sie“ — und mit einem kühnen Schwunge ſetzte er über die niedrige Mauer — „es ſpricht ſich gemüthlicher, wenn die alten Steine ſich nicht zwiſchen uns hindernd erheben; Pyramus und Thisbe ſind wir ja nicht.“ Solche Kühnheit brachte das junge Mädchen vol— lends aus der Faſſung und ohne Zweifel würde ſie, | mit Zurücklaſſung ihres Strohhutes und ihres Albums, E. jetzt den vorher verworfenen Fluchtverſuch gewagt ha— ben — in der ſicheren Ueberzeugung, daß er ſie einho— len und anhalten würde, wäre nicht eine plötzliche, merkwürdige Aenderung in dem Fremden vorgegangen. Vorhin hatte er in der liebenswürdigſten und dabei doch überlegenen Weiſe mit ihr geſcherzt, in Haltung und Bewegung, nach ſeiner Kleidung wie nach ſeiner gewählten Sprache ein „Gentleman“ — ein Ideal, das für Anna, aus der Lectüre engliſcher Romane er— wachſen, alles Männliche, Ritterliche und Ehrenvolle in ſich ſchloß. Jetzt, ihr dicht gegenüber, verwandelte ſich der Ausdruck ſeines Geſichtes, der Ton ſeiner Stimme. Zum erſten Male ſah er ihr tief in die Augen und durchforſchte ihr Antlitz mit einer ängſtlichen Spannung. 220 Früher hatte ſich Anna, in mädchenhafter Scheu, wie verſteckt hinter den Bäumen gehalten; ſo aber, vor ihm, konnte ſie den Kopf nur zur Seite wenden. Es war ihr nicht möglich, ſeinen Blick zu erwidern, ein dunkles Feuer blitzte darin, und zuleich überzog eine ſchwere Wolke ſeine noch ſoeben heitere Stirne. Seine Lippen bebten und er mußte ſie mit ſichtlicher Gewalt auf einander preſſen, um die Frage, die ſich über ſie drängen wollte, im Herzen zu verſchließen. „Fräulein Anna,“ ſagte er rauh und heiſer und ſtreckte die Hand nach ihr aus, als müſſe er ſich durch die Berührung verſichern, daß er keine Erſcheinung, die aus Luft gewebt in Luft zerflattere, ſondern eine Sterbliche vor ſich habe. Dieſe Verwandlung des vorher ſo ruhigen und ſeiner ſelbſt ſo ſicheren Mannes übte eine mächtige Wirkung auf das Mädchen aus. Noch nie hatte ſie in ihrer glücklichen Unerfahrenheit den Anblick eines Menſchen gehabt, der mit einer Leidenſchaft ringt. Sie fühlte ſich wie am Boden gefeſſelt, unbeweglich, mit bleichen Wangen und ſtarren Augen, ſtand ſie; zuletzt waren doch ihr Mitleid und ihre Kindlichkeit die ſtär⸗ keren Gewalten. „Was iſt Ihnen?“ fragte ſie ſchüchtern. „Wollen Sie niederſitzen? Ich hole Ihnen einen friſchen Trunk Waſſer.“ | 2 a a 5 * 221 Inzwiſchen hatte fich der Fremde gefaßt. „Ich danke Ihnen, es iſt nichts. Ein Schwindel, ein Flim— mern vor dem Geſicht! Vielleicht rührt es von dem Wiederſcheine der Sonne auf den Fenſterſcheiben des Thurmes her. Aber raſch, zeigen Sie einmal Ihre Zeichnung.“ „Nein, mein Herr, das geht nicht an. Sie iſt eben erſt begonnen, und Ihr Tadel hindert mich wohl, ſie überhaupt zu vollenden.“ „Wer jagt Ihnen denn, daß ich fie tadeln würde?“ „Die Leute, die loben, pflegen anders auszu— ſehen.“ „Etwa wie Freund Ottokar,“ lachte er auf, wie Einer, der einem klugen Kinde ſein Geheimniß abge— lauſcht hat. „Ich wollte ſagen, wie der geſtrenge Herr Bürger meiſter Wildenhagen?“ Bei der Erwähnung des Bürgermeiſters war Anna bis zu den Schläfen hinauf roth geworden, hatte eilig ihren Strohhut von dem Zweig herabgenommen und ſchien, ihr Skizzenbuch krampfhaft an den Buſen drückend, ſowohl zur Abwehr wie zur Flucht bereit. „Nichts für ungut,“ ſagte der Fremde, der allen Bewegungen des anmuthigen Mädchens folgte, und ſtreckte ihr noch einmal die Hand entgegen. „Der Bür— germeiſter iſt mein guter Freund, von ihm habe ich 222 Ihren Namen erfahren — geſtern, als Sie mit dem Fräulein Aldenhoven in die Stadt fuhren. Sie mer: ken daraus, daß ich kein Hexenmeiſter bin, und wenn auch unſere Bekanntſchaft abſonderlich angehoben hat, es wird nur an uns liegen, daß ſie künftig auf eben⸗ ner Straße fortfährt.“ Die dargebotene Hand zurückweiſen, wäre unartig geweſen, doch konnte ſich Anna nicht entſchließen, ſie anders als mit den Fingerſpitzen zu berühren. Welch' ein ſeltſamer Mann war dieſer Fremde! Wie ſo ei: gen ſein Benehmen! In ihrer Umgebung war nicht ein Einziger, der ſich mit ihm vergleichen ließ. Je länger ſie mit ihm ſprach, deſto ſtärker wurde ſein Einfluß auf ſie, mit geheimer Furcht empfand ſie es. Um ſich mit Ehren aus ihrer Lage zu ziehen, raffte ſie ihre Kräfte zuſammen und ſagte: „Sie wollen, daß unſere Bekanntſchaft fortan auf gerader Straße ſich bewege, mein Herr? Laſſen Sie mich dann den erſten Schritt darauf thun und Sie der Beſitzerin die⸗ ſes Gartens und Hauſes vorſtellen.“ „Dem Fräulein Aldenhoven?“ „Ja, es iſt er daß ich ihr nicht ſchon dieſen Beſuch eines . „So iiktefähten e angekündigt habe?“ unterbrach er fie lachend, feine gute Laune ſchien zu⸗ 223 rücigefehet. „Das eilt nicht, mein Fräulein! Ich glaube gar, Sie wollen mir mit der Beſitzerin dieſes Parkes 5 „Ich rede mit der Ehrerbietung von meiner güti— gen Beſchützerin, die ſie verdient.“ 1 „Beſchützerin?“ 7 „Erregt das Wort Ihr Staunen? Ich bin eine 5 arme Waiſe.“ * „Vergebung, mein Fräulein, wenn ich unvorſich— tig eine Saite Ihres Herzens berührt, die ſchmerzlich = klingt. Nichts liegt mir ferner; ich bin beſchämt über meine Tactloſigkeit. Und um Sie ganz zu beruhigen, verſpreche ich Ihnen, daß ich auf dem nächſten Pfade mit Ihnen zu dem Hauſe gehen werde, nur einen Blick laſſen Sie mich noch in den Thurm werfen. g N Zwei ſo alte Freunde, wie ich und er, beides mittel: alterliche Reſte und auf der Schattenſeite des Lebens, * ſehen ſich nach ſo langer Trennung gerne einen Augen— blick allein und ohne Zeugen. Es gibt Geheimniſſe 75 zwiſchen ihnen, die ſie nur einander anvertrauen mögen.“ 5 So ſprechend ſchritt er auf den Thurm zu; auch 5 wenn ſie gewollt, hätte ihn Anna nicht zurückzuhalten * vermocht, er trat auf, als wäre er auf dieſem Boden * der unumſchränkte Herr; fie konnte ihm nur noch nach: 224 ' rufen: „Nehmen Sie ſich in Acht, mein Herr, fteigen Sie nicht die Wendeltreppe hinan! Die Stufen find aus den Fugen gewichen.“ Statt jeder Antwort wandte er, ſchon unter der 1 Thüre der Ruine ſtehend, ſein Geſicht ihr zu, wie vom Glanz der Sonne, der durch die Zweige der Bäume darauf fiel, ſchimmerte es von Muth und Lebensfreu-⸗ digkeit. Anna nahm ihren Platz auf der Steinbank wieder ’ ein, mit der Abſicht, an ihrer Zeichnung weiter zu arbeiten, aber der Stift zitterte in ihrer Hand und kein Strich wollte ihr gelingen. Mißmuthig, klopfen⸗ den Herzens, die Augen wiederholt zu dem Dach des Thurmes erhebend, als müſſe dort ein Stein nieder⸗ ſtürzen, ein Unglück geſchehen, ſaß ſie da. Nur eine kurze Weile, die innere Unruhe trieb ſie, aufzuſtehen und unter den Bäumen auf- und abzuwandeln. Im Thurm blieb Alles ſtill; zuweilen knarrte und ächzte es; der Fremde hatte wohl eine Thüre geöffnet. Drin⸗ nen und draußen tiefſter Friede. Ja, Friede in der Ruine, die ahnungslos und unbewußt ihrer Vernichtung entgegenträumte, Friede unter den Tannen und in den langſam dahinziehen⸗ den Wolken des Himmels — allein Sturm und Kampf in dem Kopfe und Herzen Reinhard's, der trotz der 225 Warnung Anna's die Wendeltreppe zu dem oberſten Gemach des Thurmes hinanſtieg. 2 5 Jeder von uns ſchleppt eine Welt mit ſich — die Welt ſeiner Vergangenheit, die ſich aus ſeinen eigenen 1 Thaten ſo feſt und unzerſtörbar wie der Erdball auf— * baut — und es iſt nur ein Wunder, daß er nicht be— R: ſtändig ihre Laſt empfindet, ſondern ſo gelaſſen da— beer fortlebt, wie unter dem Druck der atmoſphäri— R ſchen Luftſäule. Werden wir aber einmal durch ein Ereig— 5 niß, einen Stoß, den unſer Gedächtniß erhält, gezwun— f 3 gen, hinter uns zu ſehen und jenes dunkle Schatten— ) bote ſich nicht da in Wehmuth auf! Wer ſpielte da nicht mit Möglichkeiten, die nun für immer abge— x ſchnitten find! Mit Entwürfen zu einem idealen Le— Bi” bensplan, den er ausgeführt hätte, wäre damals nicht eein unbedachtes Wort den Lippen entwiſcht! Dann werden wir uns wohl des Zuſammenhangs der Dinge klar, wie eins aus dem anderen ſich geſetzmäßig ent⸗ wickelte und nirgends Willkür und Zufall herrſchte, Br; nur der erſte Funke, der in die träge Seele ſchlug, = der erite Stoß, der die Maſſe in Bewegung ſetzte, bleiben nach wie vor mit undurchdringlichem Schleier verhüllt. i Tief ſeufzend unter der Wucht dieſer Gedanken Frenzel, Lebensräthſel I. 15 226 war Reinhard die Stiege hinangeſchritten und hatte 9 die Thüre zu dem Gemache geöffnet. Es lag hart unter dem Dach; eine ſchmale Wendeltreppe von Eis chenholz um eine kunſtvoll gedrehte Säule, die in der Mitte des Raumes bis zur Decke aufragte, fi win⸗ dend, führte zu der Fallthüre, die auf die Plattfom hinausging. Jener eigenthümliche Duft, der unbewohnte Zimmer mit altem Hausrath erfüllt, wehte ihm entge⸗ gen. In dem Gemach war es heiß und dämmerig. Wer mochte ſagen, wann der letzte erfriſchende Lufthauch durch die Fenſter geſtrömt war? Erblindet waren die kleinen Scheiben, ungeſtört hatten die Spinnen ihre 1 Netze darüber gewoben, ſie hingen von den geſchnitz⸗ ten Balken der Decke. Dort in der Niſche ſtand noch das Himmelbett, die wollenen Gardinen waren zugezogen, ausgeblaßt in ihren Farben, mit jo man⸗ chem Riß. Ein Stuhl lehnte ſich an das Bett; zu meiner Zeit wackelte er nur, dachte Reinhard, jetzt hat er den Fuß gebrochen. Der Schrank mit den Be⸗ ſchlägen und Griffen von Meſſing, der Lehnſtuhl mit dem grünen Lederbezug, deſſen Nähte bedenklich klaff⸗ ten — es waren die ſtummen und doch gewichtigen, unbeſtechlichen und unabwendlichen Zeugen der Ver— gangenheit. Kannſt Du uns offen in's Angeſicht bli⸗ cken? ſchien jeder zu fragen. Ja, kannſt Du es? fragte a 227 leiſe eine Stimme. Zuſammenfahrend ſchaute ſich Rein: hard um. Es geſchieht Dir ſchon Recht, ſagte er halb— laut, Du biſt ein Narr, mit dem die Geſpenſter am hellen Tage ihren Poſſen treiben. Sie iſt todt. Und auch ihr Bild iſt, geſtehe es doch nur, in Deinem Herzen halb erloſchen. Glaubſt Du, der alte Trödel— kram hier wird es wieder auffriſchen? Eine Liebe aus der Studentenzeit! Ja, wenn die Dinge um Dich her reden könnten, ſo möchten ſie Dir vielleicht erzäh— len, was nach jener ſchrecklichen Nacht geſchehen, wann ſie geſtorben iſt und wie! — Aber ſo! Die Einzige, die Dir dies Dunkel aufhellen kann, iſt Ottilie. Wie ſchwer es Deinem Stolz auch fallen mag, Du wirſt ſie um Aufklärung bitten müſſen und auf's Neue eine Verpflichtung auf dich laden . .. Mitten in dieſen Ge⸗ danken tauchte die Reue auf: warum biſt Du hierher gekommen? Freilich, es war im Grunde nichtig, eine ſo alltägliche Geſchichte — ein zwanzigjähriger Toll⸗ kopf, der ſich in ein junges Mädchen blindlings, unüberlegt verliebt, Beide von Leidenſchaft bethört, die jetzt zu einander hingezogen werden, wie von überirdiſcher Kraft, und jetzt ſich fliehen, wie feindliche Pole, bis Ro— meo nach Amerika flüchten muß, dort in dem Men⸗ ſchenocean untertaucht, und als er wieder an der Oberfläche erſcheint, die Kunde von dem Tode ſeiner 15* 228 Julia drüben in der alten Heimath vernimmt. Seit Jahren iſt Reinhard niemals von dieſen Erinnerungen gepeinigt worden, hier ergreifen ſie ihn wieder. Was in der Wirklichkeit ein Rauſch, eine Thorheit geweſen war, nimmt allmählig ſich verwandelnd das Gepräge einer Schuld an. Oder erſcheint überhaupt der Leichtſinn der Jugend dem gereifteren Alter als Fehler und Sünde? Alle dieſe Betrachtungen und Bedenken ſtiegen und ſanken, blitzſchnell wie die Wellen der Brandung, in Reinhard's Seele, während er das Gemach hin und her mit ſtarkem Schritt durchmaß. Dabei fiel ihm das junge Mädchen ein, das draußen ſeiner wartete; es war ihm, als verweile er ſchon ebenſo viele Stun⸗ den im Thurm, als es Minuten waren. Stand ſelbſt die Zeit unter dem Zauber der Vergangenheit? Er machte eine ernſtliche Willensanſtrengung, um fortzu⸗ gehen; an der Thüre kehrte er wieder um. In eifri⸗ ger Haſt zog er die verſchiedenen Käſten des Schrankes auf — ſie waren, wie er es ſich hätte ſagen können, leer. Nur bekehrte ihn dieſer Fehlſchlag ſeine Hoff: nungen nicht; mit verdoppelter Begierde durchſtöberte er jedes Fach, als müſſe ſein Forſchen zuletzt belohnt werden. Wodurch? Wenn ihn der verſtändige Freund Wildenhagen darnach gefragt, er hätte keine Antwort 229 darauf gewußt. Endlich — da iſt ein Haufen Papiere, es ſind Rechnungen, Wirthſchaftsbücher, von einer Hand geſchrieben, die er nicht kennt. Aergerlich ſtreut er die Blätter um ſich her, eins behält er in der Hand. Es iſt eine halb ausgeführte Zeichnung, ein Mädchen: kopf — auf grauem Papier mit rothem Stift leicht und feſt hingeworfen, leicht und feſt und von der Hand eines Liebenden. Ein Zittern ergreift Reinhard, er muß ſich an der Lehne des alten Armſtuhls feſthalten. Dieſen Kopf, er hat ihn gezeichnet, es iſt Marie, die Jugendgeliebte. Aber je länger er ihn anblickt, je ſchärfer er jeden feinſten Zug des Geſichts in's Auge faßt, deſto zweifelloſer tritt eine Aehnlichkeit hervor — eine Aehnlichkeit! Er hat das Gefühl, als ſträubten ſich ihm die Haare auf dem Kopfe. Die Wehmuth, die ihn zuerſt beſchlichen, hat einer anderen ſtärkeren und doch namenloſen Empfindung, in der Schmerz und Freude ſich zu gleichen Theilen miſchen, den Platz ge— räumt. — Aber warum zögern? In einer Minute kann er ſich Gewißheit verſchaffen, ob ſeine Ahnung Wahrheit oder Täuſchung ſei. Das Blatt hochhaltend, ſtürzt er aus dem Gemach, eilt die oberſten Stufen der Wendeltreppe hinab und ruft mit erſtickter, beben- der Stimme: „Fräulein Anna! Fräulein Anna!“ Dem jungen Mädchen erklang der Ruf wie ein 230 Schrei um Hülfe, ſie riß die Thür des Thurmes, die wieder in's Schloß gefallen war, ſo raſch ſie konnte auf und war beinahe erſtaunt, den Fremden heil und geſund auf der Wendeltreppe zu ſehen. Durch die meitge- öffnete Pforte ſtrömte die Tageshelle in das Halb: dunkel des öden Raumes; Anna, wie mit einem Glo— rienſchein von den Sonnenſtrahlen umglänzt, hatte für Reinhard einen Augenblick etwas Ueberirdiſches, einer Viſion Aehnliches. Oder ſpielte ihm die Phan⸗ aſie einen argen Streich? Mehr und immer mehr verwandelte ſich das Mädchen am Fuß der Treppe in die Jugendgeliebte; die Augen ſtarr auf fie ges richtet, geblendet von dem Sonnenſchein, that er einen Fehltritt, die Stufe ſchwankte und ſich überſchlagend, ſtürzte er hinab. Nur einen durchdringenden Schrei vermochte Anna auszuſtoßen, fie war rathlos, betäubt. Zu ihren Fü: ßen lag der Fremde, die ſtolzen, herausfordernden Augen geſchloſſen, mit blutender Stirne. Was ſollte ſie zunächſt thun? Durch den Garten nach dem Hauſe eilen, um Beiſtand zu holen? Bei dem Verunglückten bleiben? Darüber war ſie ſchon niedergeknieet und hatte ſein Haupt von den Flieſen des Bodens erho⸗ ben. Mit ihrem Tuch bemühte ſie ſich, das Blut zu ſtillen; der Erfolg wollte ſich nicht ſogleich einſtellen 231 und Thränen der Sorge und des Mitgefühls ftrömten ihr über die erblaßten Wangen. Die heißen Tropfen, die auf ſein Geſicht fielen, ſchienen gleichſam eine er— friſchende Wirkung auf den Verwundeten zu üben. Er ſchlug die Augen auf, verwundert, langſam umher— ſchauend, wie einer, der plötzlich aus dem Schlaf ge— weckt, ſich erſt allmählig wieder in ſeiner Umgebung zurecht findet. „Sie leben,“ jubelte Anna auf. „Ich empfinde wenigſtens noch“, entgegnete er und taſtete mit der Hand nach ſeiner Stirne. „Ach! Das iſt Blut. Ich mache Ihnen viel Angſt und Sorge, mein Kind.“ ö „Bleiben Sie ruhig; Sie ſind von der Stiege niedergeſtürzt.“ „Blos von der Stiege? Da iſt's noch gnädig mit mir abgelaufen. Lucifer erlitt einen tieferen Sturz. Geben Sie mir Ihren Arm, ich will verſuchen, aufzu- ſtehen.“ | Als er ſich aufrichtete, merkte er erſt, daß er doch nicht ſo wohlfeilen Kaufs davongekommen war; er hatte den linken Arm gebrochen. Mühſam, von Anna unterſtützt, den Schmerz verbeißend, ſchritt er zu der Bank. | „Wollen Sie nur eine kleine Weile hier ſitzen?“ 232 bat ſie in fliegender Haſt. „Aber ſtill und geduldig, ohne ſich zu regen? Ich laufe nach dem Schloſſe und hole die Diener; vielleicht iſt der Arzt noch bei dem Fräulein.“ „Thun Sie, was Ihnen Ihr gutes Herz eingiebt. Nur keine Furcht für mich! Das iſt ſchmerzhaft, doch ich ſterbe nicht daran, ich verſpreche es Ihnen bei den Geiſtern dieſes Thurms. In all' dieſem Unglück ſteckt ein Wunder des Glücks!“ Seine Behauptung bewährte ſich für das Ver—⸗ ſtändniß Anna's faſt in demſelben Moment, in dem fie ausgeſprochen ward. Ganz in der Nähe tönten. Stimmen, durch das Dickicht und die Wendung des. vielverſchlungenen Pfades waren ihnen die Redenden noch verborgen, doch das junge Mädchen erkannte fie „Das iſt Ottilie und Doctor Abel“, rief ſie und eilte ihnen entgegen. Es war gut, daß fie den Ausdruck in Reinhard's Antlitz nicht beobachtete; ihre ſchöne Freude, die Hilfe für ihn jo nahe zu wiſſen, hätte dann wohl ei⸗ nen ſchmerzlichen Eintrag erfahren. Zu dem Zug des, Leidens in ſeinen Mienen hatte ſich der des Aergers und des Mißmuthes geſellt. „Die Wiederbegegnung beginnt nicht ſehr rühmlich für mich“, murmelte er vor ſich hin. „Der tapfere Kriegsheld von einer Wen⸗ ED a = r 233 deltreppe gefallen! Das iſt lächerlich. Und wenn auch bei ihr das Mitleid überwiegt, ſo iſt doch der Doctor da! In der Jugend bin ich glücklich ſeinen Mixturen und Heilmethoden entgangen; wahrlich, es lohnte ſich, nach der Heimath zurückzukehren, um von ihm nach der Kunſt behandelt zu werden!“ Seine bittere Laune hatte ihm indeſſen die Men: ſchen diesmal zu ſchwarz vorgemalt. Ottilie, der Freund wie der Arzt, die auf den Ruf Anna's er⸗ ſchrocken herbeikamen, wetteiferten mit einander, ihm ihre Theilnahme und Sorge auszuſprechen. In dem allgemeinen Eifer, ihm wohlzuthun und ſeine Schmer— zen zu lindern, wurde jede Förmlichteit, jedes ſteife Wort, welche ſonſt ein Wiederanknüpfen zerriſſener Freundſchaftsbande einzuleiten pflegen, vergeſſen. Als wäre er nie von ihnen getrennt geweſen und hätte ſtets zu ihnen gehört, ward er aufgenommen. Selbſt der Doc— tor enthielt ſich jeder ſpöttiſchen Bemerkung und widmete ſich ganz der Beſichtigung der Wunden. „Nicht ge— fährlich, aber langwierig,“ meinte er, nachdem er einen kunſtgerechten Verband aus den Tüchern der Damen um die Stirne Reinhard's gelegt. Einer Rückkehr in ſeine Stadtwohnung, auf die Reinhard anſpielte — Wildenhagen wollte gleich das Gefährt anſpannen laſ— ſen, der Doctor könne mit ihnen fahren — widerſetzte 234 ſich Ottilie. Ihrem ernten und beſtimmten Ton konnte man nicht widerſprechen, ſie hatte dann in ihrer Stimme und Haltung ein Etwas, das ſich unwillkür— lich Gehorſam erzwang. Es war alſo entſchieden, Reinhard blieb im Hauſe der Aldenhoven. Um ein Zimmer raſch für ihn in Stand zu ſetzen, wurde Anna vorausgeſchickt; Wildenhagen, der von ihr Nähe: res über den Unfall des Freundes zu erfahren hoffte, ſchloß ſich ihr an. Langſam, auf Ottiliens Arm ges ſtützt, folgte Reinhard; der Doctor übte die Vorſicht, in gemeſſener Entfernung ihnen nachzuwandeln und zur Auffriſchung ſeiner Lebensgeiſter, in Anſehung der wunderlichen Dinge, die ſich aus dieſer Verkettung der Zufälle ergeben würden, öfters als ſonſt eine Priſe zu nehmen. „Sie leiden ſehr?“ fragte Ottilie, als Reinhard ein halblauter Seufzer entfuhr. „Eine kurze Geduld noch und wir ſind im Hauſe.“ „Ich dachte nicht an die Schramme“, entgegnete er. „Und gebrochene Arme hat der gelehrte Doctor wohl zu Hunderten wieder zuſammengeflickt. Ich dachte, daß ich gleich bei dem erſten Tritt auf dieſen Boden wieder Ihr Gefangener bin.“ „Bekümmert es Sie? Bin ich ein fo ſtrenger Ge— fangenwärter?“ a: a: ey e +7 235 „Im Gegentheil! Dabei will es mir nicht ein— leuchten, nicht zu dieſer Friſt einleuchten, daß ſo viele „Sechszehn Jahre! Sprechen Sie nur getroſt die ſchreckliche Zahl aus; die Zeit hat uns älter ...“ „Aber mich wenigſtens nicht verſtändiger gemacht. An Ihnen, Fräulein Aldenhoven, gehen freilich die Jahre ſpurlos vorüber, ſie haben keine Macht über dies feſte Herz und über dieſen Kopf von Marmor.“ „Sie werden ſchon die Veränderung merken, Rein: hard — wenn es Ihnen nicht zu ſchwer fällt, nennen Sie mich Ottilie, ich bin es von Ihnen nicht anders gewohnt, und es würde mich drücken, dieſer Gewohn— heit entbehren zu müſſen. Wer wie ich ſtill ſitzt, lebt ſich nur zu leicht in enge Formen ein und verlernt ſich in neue zu ſchicken. Ich habe mir nie vorſtellen können, das Fräulein Aldenhoven einen Oberſten Bauer, ſondern immer nur, daß Ottilie Reinhard wiederſehen würde.“ „Wohl denn, Ottilie! Wiſſen Sie, was Sie mir damals in jener Abſchiedsnacht ſagten? — Von Klippe zu Klippe würde mich die Leidenſchaft ſtürzen ...“ „Und ich freue mich, daß der thörichte Ausſpruch eines gereizten Mädchens, die Ruhe predigte, während fie ſelbſt in Flammen ſtand, nicht in Erfüllung ge— 236 gangen iſt. Hätten wir nur Kunde, was die Todten von uns dächten! Aber den Glauben laſſe ich mir nicht nehmen, daß Ihr Vater Sie heute an ſeine Bruſt ſchließen und ſeinen Fluch in Segen verwandeln würde; Sie ſind geworden, was er war, ein Mann!“ „Nein, nein! Ich bin kein Cato, wie er. Jetzt wie damals ein großer Rebell! Sie haben ſich eine ſchwere Laſt mit mir aufgeladen, Ottilie, Sie werden es bereuen!“ Sie hemmte ihren Schritt und nöthigte ſo auch ihn, ſtille zu ſtehen. Ihre Blicke ſuchten ſich, fanden ſich und ruhten eine flüchtige Weile in einander. Ot⸗ tiliens reine, und, wie er hätte ausrufen mögen, idea⸗ liſche Schönheit ſpiegelte ſich gleichſam in dem Ausdruck der Bewunderung, der in ſeinem Geſicht lag. „Nein, Reinhard“, ſagte ſie mit ihrer vollen ſiche⸗ ren Stimme und ſetzte ihren Fuß wieder vorwärts, „ich werde es nicht bereuen, Sie bei mir aufgenommen zu haben, ſo wenig wie ich es ſeiner Zeit bereut habe.“ „Sie ſind großmüthig, Ottilie, und erdrücken mich mit Ihren Wohlthaten. Soll ich nicht wiſſen, welch' ein Opfer ...“ Haſtig unterbrach ſie ihn. „Ein Opfer?“ Mit einem heiteren Lächeln ſuchte ſie der Gefahr, die unter dem unſchuldigen Worte drohte, zu begegnen. „Daß 237 ein alleinſtehendes Mädchen, wie es bei den Gevat— * terinnen heißt, einen verwundeten Kriegsmann bei ſich a behalte Ach, ich muß Ihrer Eigenliebe ſehr wehe thun, 1 Reinhard — ja, wenn Sie noch der Erſte und Ein: zige wären, aber ich glaube, Sie ſind der Zwanzigſte.“ 5 „O“, entgegnete er, aus der Faſſung gebracht, „nicht von der Gegenwart wollte ich ſprechen ...“ # Ottilie legte den Zeigefinger ihrer rechten Hand . auf die Lippen. Huſtend und pruſtend näherte ſich 3 ihnen der Doctor. Vor ihnen jenſeits der Raſenplätze = und Blumenbeete erhob ſich friedlich und einladend | das Haus, um die Geſimſe ſchwirrten die Schwalben. Druck von Richard Schmidt in Reudnitz⸗Leipzig. Verlag von Ernſt Zulius Günther in Teipzig. Robespierre. Geſchichtlicher Roman von Karl Wartenburg. 2 Bände. 8. Eleg. geh. Preis 1 Thlr. 15 Ngr. Milben der Grlelllchufl. Eine Erzählung von Mar von Schlägel. 1 Band. 8%. leg. geh. Preis 1 Thlr. Krieg und Frieden. Novellenbuch von Levin Schücking. 3 Bände. 8. Eleg. geh. Preis 2 Thlr. 15 Ngr. | 2 . 2 ’ ’ „ Die Türken in München. 1 Roman von Herman Schmid. 2 Bände. 8. Eleg. geh. Preis 2 Thlr Concordia. Eine deutſche Kaiſergeſchichte aus Bayern von Herman Schmid. 5 Bände. Preis 4 Thlr. 15 Nar. Verfloſſene Stunden Novelle von F. Junghans. 1 Band. 8°. Elegant geheftet. Preis 22 Ngr + “2 * 1 7 8 F h . = Berlag von Ernſt Zulius Günther in Leipzig. Kenelm Chillingly. Roman Von Edward Bulwer. Aus dem Engliſchen 3 Bände. Eleg. geh. Preis 5 Thlr. Das Geſchlecht der Zukunft. Roman von Edward Bulwer. Aus dem Engliſchen von Jenny Piorkowska. Autoriſtrte Ausgabe. 1 Band. 8. Geheftet. Preis 1 Thlr. Die Lobels au auf Arden. Roman von M. E. Braddon. Aus dem Engliſchen von Marie Scott. Autoriſirte Ausgabe. 4 Bände. 8. Eleg. geh. Preis 3 Thlr. 15 Ngr. a NR „ 2 — * cn is m) ram age ww Ne SH 5 7 2 * De. 274 ad ’ * 4 2 e 28 « K ; ws 8 nn | eis 75 21 y Pr z * 0 7 ? 1 u als} age rd PM f g 8 E 7 ex N nr 8 N “ FAT EI UT Edle en hr * 0 5 8 15 ” 8 ey en 8 1 2 * * ax RE 7 1218 N 1 * DR Zeit. Dritte Aufl. 4 Thle. in 25 . 7 Neue Romane aus dem Verlag =» von 28 Ernſt Julius Günther in Ceipzig. N (In jeder guten deihbibliothef zu haben.) Sacher I aſoch, Ruſſiſche dofgeſchic ten. Erſter und zwei ter Band. Preis pro Band Thlr. 1. Fr Sacher-Maſoch, Kaunik. a Nr Neue Me 2 Bände. Preis Thlr. 1. Sacher-Maſoch, Der Emiſſär. Eine galiziſche Geſchicte. Ausgabe. 1 Band, Preis 10 Nur. EN 5 Sacher-Maſoch, Lie besgeſchichten aus verſchied enen hunderten. 1 Bd. Preis Thlr. 1. 10. . ; Sacher-Maſoch, Ein Weihlicher Sultan. 3 Bde. Thlr. 3. — 1 Sacher aſoch, Die eee Wiens 1.8 Thlr. 1 15. N Sacher-Maſoch, Gute Menſchen und i Novellen. 1 Band. Preis Thlr. 1. 105 W Johannes Scherr, Michel. 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